Ausland27. März 2021

Vor 1.600 Jahren wurde Venedig gegründet

»Venedig lebt!«

Offizielle Feiern werden wegen Corona-Pandemie verschoben. Katastrophale Umweltverschmutzung wird ausgeblendet

von Gerhard Feldbauer

Die traditionsreiche Lagunenstadt Venedig beging am 25. März den 1600. Jahrestag ihrer Gründung. Da es mit der Grundsteinlegung für die Kirche San Giacomo auf der Laguneninsel Rialto ursprünglich ein Feiertag der Kurie war, wurde das Ereignis besonders von der katholischen Kirche begangen. Der Patriarch von Venedig, Francesco Moraglia, zelebrierte im Markusdom einen Gottesdienst, der von der Fernsehstation Antenna 3 übertragen wurde. RAI due strahlte einen Dokumentarfilm aus.

Das Südtiroler Onlineportal »stol it« erinnerte in einem ausführlichen Beitrag daran, daß mit der Grundsteinlegung für die Kirche San Giacomo die venezianische Staatswerdung und die legendäre Geschichte Venedigs begann. Die offiziellen Festlichkeiten wurden wegen der Corona-Pandemie um ein Jahr verschoben bzw. sollen im Lauf der nächsten zwölf Monate stattfinden. Der legendären Gründung Venedigs vor 1600 Jahren will die Lagunenstadt damit trotz fehlender Touristen und düsterer Stimmung mit einer Reihe von Veranstaltungen gedenken, die ein ganzes Jahr – also bis zum 25. März 2022 – dauern werden, heißt es in einem Aufruf der Stadtverwaltung. Damit wolle man »ein wichtiges Signal senden: Venedig lebt!«.

Werfen wir einen Blick auf die zwölf Jahrhunderte, in der Venedig als die schönste Stadt der Welt besungen wurde, als »La Dominante«, »Königin der Meere«, als »Serenissima« – die Durchlauchtigste. Zu ihrer Reinhaltung galten einst die strengsten Gesetze. Wer ohne Erlaubnis der Stadtväter, des »Großen Rates«, einen Eichenpfahl in die Lagune trieb, wurde ins Gefängnis geworfen. Wer einen faulen Apfel in ihr Wasser warf, wurde ausgewiesen.

Vieles davon mag Legende sein. Jedoch steht eines fest. Der Schutz der »Serenissima« war über Jahrhunderte oberstes Gebot ihrer Einwohner.

Das änderte sich, als die Herrschaft des Kapitals über Venedig begann. Schon während des Ersten Weltkrieges begann die Industrialisierung, entstanden in dem nur fünf Kilometer von Venedig entfernten Mestre auf dem Festland riesige Ölraffinerien, Chemieanlagen, Kraftwerke und Aluminiumfabriken, Hochöfen und Kokereien. Bei einer Rundfahrt auf dem Canal Grande ist heute beim genaueren Hinsehen zu erkennen, wie die Luftverschmutzung die jahrhundertealten Bauwerke zersetzt. Museen sind betroffen, Bilder beschädigt.

Das Hafengebiet von Venedig wurde im Ergebnis dieser verantwortungslosen Form der Industrialisierung zu einem der größten Verkehrsknotenpunkte Italiens ausgebaut. Sieben Eisenbahnlinien, 13 Autobahnen und Staatsstraßen, sämtliche Binnenschifffahrtskanäle des Landes laufen hier zusammen. Damit Frachtschiffe und sogar große Tanker direkt in Venedig anlegen konnten, wurden ohne Rücksicht auf die seit Jahrhunderten gehüteten und geschützten Strömungsverhältnisse 18 Kilometer Kanäle in einer Breite von 180 Metern und einer Tiefe von 15 Metern angelegt. Dazu gehören über 4 Kilometer Hafendämme, 60 Kilometer Hafenstraßen und 210 Kilometer Gleiskörper im Hafengelände.

Um die Süßwasserquellen anzapfen zu können, wurden Hunderte von Adern bis zu 300 Meter tief ins Meer hinein erschlossen. Venedig, dessen Palazzi auf rund drei Millionen Eichenpfählen ruhen, versank dadurch tiefer ins Meer. Waren es im Laufe von Jahrhunderten nur einige Millimeter, wurden 1961 bereits 15 Zentimeter gemessen, und sie sinken weiter.

Hinzu kam die Störung der Gezeiten. Während die Flut, die den Strand von Lido umspült, vor einem halben Jahrhundert noch zweieinhalb Stunden brauchte, um Marghera zu erreichen, ist diese Zeit auf 40 Minuten und weniger zusammengeschrumpft. Die Überschwemmungen erreichen die Stadt in immer kürzeren Abständen. Bei starkem Regen steigt das Wasser heute bis zu 1,20 Meter an und überflutet den Markusplatz und alle Paläste auf gleicher Höhe. Tausende Wohnungen sind eigentlich unbewohnbar. Zahlreiche Bauwerke müßten saniert werden, denn Abgase zerfressen Statuen, Marmorfassaden und Bilder.

Vor Jahren wurde bereits eingeschätzt, daß ein Drittel der venezianischen Kunstwerke beschädigt ist, Schmutzwasser das biologische Gleichgewicht der Lagune zerstört. Experten befürchteten schon seit langem, daß Venedig mit seinen über 400 Palästen, 22 Klöstern und 86 Kirchen eines Tages durch die ständige Überflutung weitgehend unbewohnbar werden könnte.

Hinzu kommt, daß die Lagunenstadt von der Plage der Kreuzfahrtschiffe heimgesucht wird. Für einen vernünftig denkenden Menschen ist es eigentlich unvorstellbar, daß Riesenkreuzfahrtschiffe dicht an den Wohnhäusern dieser Großstadt vorbeifahren. In der Lagunenstadt ist das jedoch täglich der Fall. Dabei rammte am 2. Juni 2019 die 275 Meter lange »MSC Opera« am Terminal San Basilio-Zattere die Anlegestelle und dabei ein Touristenboot mit etwa 130 Menschen an Bord. Mehrere Touristen wurden verletzt, zahlreiche Passagiere »sprangen aus Angst ins Wasser, Menschen an Land liefen entsetzt davon«, die Stadt sei »knapp einer Katastrophe entkommen«, hieß es in Zeitungsberichten. Jedes Kreuzfahrtschiff verpeste die Luft wie 14.000 Autos. Die UNESCO warnte, die Stadt von der Liste der gefährdeten Kulturgüter zu nehmen, wenn »der Kreuzfahrtschiff-Streit« nicht gelöst werde.

In Venedig, das zu den größten Häfen für Kreuzfahrten Europas gehört, legten 2018 über 600 dieser Kolosse an, die mehr als 1,56 Millionen Touristen in die Stadt brachten. Insgesamt besuchen nach Angaben der Vereinigung für den Schutz der Güter der Kultur, Kunst und der Natur (Nostra ONLUS) jährlich mehr als 30 Millionen Touristen Venedig. Ein Resultat ist, daß auf dem Canal Grande, der Hauptverkehrsader zwischen dem Bahnhof und dem Markusplatz, täglich mehr als 3.000 Boote hin und herfahren, in Spitzenzeiten ein Drittel mehr. Die meisten Passagiere der Kreuzfahrt-Liner nehmen an einem extra für sie organisierten Stadtrundgang teil und zahlen dafür 250 Euro. Die Kosten für Anlegen und Aufenthalt bringen jährlich Milliarden Euro ein. Die Abhängigkeit vom Tourismus wird Segen und Fluch zugleich. Segen für Unternehmer, Geschäftsleute und die Stadtverwaltung, die Milliarden einnehmen, Fluch für die Einwohner, die unter den katastrophalen Folgen leben müssen.

Ein Anlegeverbot durchzusetzen, wird auch heute noch als nahezu chancenlos gesehen. Denn geändert hat sich seitdem nichts. Und so wird bei den Feiern, die zeigen sollen, daß »Venedig lebt«, ausgeblendet, daß es eine zum Sterben verurteilte Stadt ist, wen dem nicht Einhalt geboten wird,