Ausland31. Dezember 2022

Politischer Stillstand, militärische Instabilität

Die wirtschaftliche und soziale Lage in Syrien verschärft sich

von Karin Leukefeld

Das zurückliegende Jahr 2022 hat die politische, wirtschaftliche und soziale Situation in Syrien weiter verschärft. Militärische Aktivitäten sind weitgehend auf Gebiete Syriens begrenzt, die nicht oder nicht vollständig unter der Kontrolle der syrischen Regierung stehen.

Aufgrund des Krieges in der Ukraine und der Konfrontation des von den USA geführten westlichen Blocks von EU und Verbündeten gegen Rußland, Iran und China, hat sich die mediale und diplomatische Isolation Syriens im westlichen Block verschärft.

Syrien vertieft derweil die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen mit Rußland, dem Iran und China. Eine von Rußland wiederholt vorgeschlagene Wiederannäherung zwischen der Türkei und Syrien fand im Laufe des Jahres 2022 auf Ebene der nationalen Geheimdienste statt.

Status Quo
und Entwicklungen

Am 28. Dezember wurde bekannt, daß die Militärminister der Türkei Hulusi Akar und Syriens Ali Mahmoud Abbas auf Einladung des russischen Verteidigungsministers Sergei Schoigu in Moskau zu Gesprächen zusammengetroffen waren. Auch die Geheimdienstchefs der drei Länder nahmen an dem Treffen teil. Laut Medienberichten ging es um die Sicherheitslage entlang der syrisch-türkischen Grenze, die Lage von Flüchtlingen und darum, wie die türkisch-syrischen Beziehungen wieder verbessert werden können. Die Türkei unterstützt seit 2011 maßgeblich bewaffnete Aufständische in Syrien.

Die Vereinigten Arabischen Emirate haben ihre diplomatische Vertretung in Damaskus wiedereröffnet und Investitionen in dem Land in Aussicht gestellt. Diese bleiben allerdings wegen der US-amerikanischen Androhung von Sanktionen gegen Investoren bisher aus.

Die Wiedereröffnung der Arabischen Gaspipeline – die Erdgas aus Ägypten über Jordanien und Syrien in den Libanon liefert – wird ein zweites Jahr in Folge von den USA blockiert. Washington weigert sich, den beteiligten Staaten zu garantieren, daß sie trotz der mit der Inbetriebnahme der Pipeline verbundenen wirtschaftlichen Kooperation mit Syrien keine Sanktionen zu befürchten haben.

Militärische Konfrontation und die Akteure

Israel setzt seine völkerrechtswidrigen Luftangriffe in Syrien ungestraft fort. Zwei Mal trafen Raketen den Flughafen von Aleppo, dabei wurde eine der zwei Rollbahnen beschädigt. Der Flughafen von Damaskus wurde so stark zerstört, daß er seinen Betrieb mehrere Wochen einstellen mußte. Ziel von Angriffen waren auch die Häfen von Latakia und Banias. Israel und die USA-Luftwaffe bombardieren weiter militärische Stellungen der syrischen Streitkräfte entlang der östlichen Grenze zum Irak. Häufiges Ziel von Angriffen ist der syrisch-irakische Grenzübergang Abu Kamal, der sowohl für den Waren- als auch für Personentransfer benutzt wird. Israelische und andere Medien geben an, die Angriffe gälten Stellungen der iranischen Revolutionsgarden oder Waffenlagern.

Neben Israel, den USA und der Türkei gehen auch Syrien und Rußland und zahlreiche Milizenverbände weiter militärisch gegen bewaffnete Gegner vor. In Deraa, im südlichen Grenzgebiet zu Jordanien und den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten und den ebenfalls besetzten syrischen Golanhöhen ist die Lage unübersichtlich. Dort agieren trotz einer umfangreichen Versöhnungsinitiative weiterhin vom Ausland finanzierte Regierungsgegner. Rußland ist mit Militärpolizei vertreten, iranische Militärberater sind innerhalb syrischer Truppenverbände aktiv.

Im nördlichen Teil der syrischen Provinz Idlib im Grenzgebiet zur Türkei sowie im weiter nördlich gelegenen Gebiet von Afrin kontrolliert die ehemalige Nusra-Front, heute Hayat Tahrir al-Scham (HTS) eine Reihe von bewaffneten Gruppen. Für die unter UNO-Fahne aus der Türkei gelieferten Hilfsgüter ist eine von HTS eingesetzte »Errettungsregierung« zuständig. Das Gebiet gilt unter flüchtigen Al-Qaida-Führern als »sicherer Hafen«. 2022 wurden dort im März und im Juli zwei hochrangige Al-Qaida-Führer bei Luftangriffen der USA getötet.

Das Gebiet nördlich von Aleppo von Afrin über Azaz und Tal Rifaat bis Al Bab ist Grenzgebiet zur Türkei und wird von der Türkei und/oder von der Türkei finanzierten bewaffneten syrischen Regierungsgegnern kontrolliert. Teilweise sind hier Einheiten der YPG, der kurdischen Volksverteidigungskräfte aktiv, die die von der Türkei unterstützten Gruppen bekämpfen.

Im Nordosten Syriens im Grenzgebiet zur Türkei und zu der kurdischen Autonomieregion im Nordirak, sind so ziemlich alle bewaffneten Akteure Syriens vertreten. Die USA-Truppen kooperieren dabei mit Rußland, Türkei und den Syrischen Demokratischen Kräften und der YPG. Rußland kooperiert mit der Türkei, den SDK und der syrischen Armee. Die Türkei greift seit Wochen wieder Stellungen der Selbstverwaltungskräfte an, um sie von der syrisch-türkischen Grenze zu vertreiben. Rußland versucht, die SDK zum Gespräch mit der syrischen Regierung zu bewegen, um eine Einigung über die staatliche syrische Kontrolle entlang der türkisch-syrischen Grenze zu erreichen.

Armut, Inflation, Sanktionen

Die wirtschaftliche und soziale Situation hat sich in allen Teilen des Landes verschärft. Der Frühjahrsbericht (2022) der Weltbank skizziert die Folgen von Zerstörung, Flucht und Vertreibung, die die wirtschaftliche Kraft des Landes zwischen 2010-2019 in den Jahren 2020-22 halbiert haben.

Die extreme Armut steige kontinuierlich an, die hohe Inflation treffe vor allem die Armen und diejenigen, die im humanitären Sprachgebrauch als »vulnerabel« bezeichnet werden: Kinder, Alte, Kranke, Witwen, alleinerziehende Mütter, traumatisierte und kriegsversehrte Männer, kurz die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung. Als Ursache für den wirtschaftlichen und sozialen Rückschritt Syriens nennt die Weltbank u.a. den anhaltenden bewaffneten Konflikt, Turbulenzen im Libanon und in der Türkei und die wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Pandemie. Aufgrund des Mangels an männlichen Arbeitskräften ist die Zunahme von Frauen auf dem Arbeitsmarkt zu verzeichnen. Die steigende Inflation wird im Weltbankbericht auch als Folge des westlichen Handelsembargos und der Finanzblockade durch das »Caesar-Gesetz« der USA genannt.

Die einseitigen Straf- oder auch Erzwingungsmaßnahmen (englisch: coercive measures) sind eine Verletzung der UNO-Charta und des Völkerrechts, weil sie nicht vom UNO-Sicherheitsrat legitimiert sind.

Die Blockademaßnahmen beschleunigen den Währungsverfall und die Verteuerung von Grundnahrungsmitteln. Strom, Benzin, Gas, Diesel sind knapp und teuer. Das betrifft auch und besonders die Landwirtschaft Syriens, das wie die gesamte östliche Mittelmeerregion auch 2022 unter Wassermangel zu leiden hatte. Syrien war entlang des Euphrat zudem von monatelangen Wasserdurchlaufsperren seitens der Türkei betroffen. Die Türkei drosselte die Wasserdurchlaufmenge des Euphrats 2021/22 bis zu 50 Prozent, vermutlich um die Syrischen Demokratischen Kräfte zu schwächen, die nördlich des Euphrats eine Selbstverwaltungszone beanspruchen. Die Türkei betrachtet die SDK als »Gefahr für die nationale Sicherheit der Türkei« und bekämpft die SDK-Strukturen im Norden Syriens auf viele Arten. Die Wasserdrosselung des Euphrat belastete die Wasser- und die Stromversorgung in den Provinzen Aleppo, Rakka, Hasakeh und Deir Ez-Zor und jenseits der syrisch-irakischen Grenze auch den Irak bis zum Schatt al-Arab.

Die große Plünderung

Ein Bericht von UNO-Sonderberichterstatterin Alena Douhan über die negativen Auswirkungen einseitiger Sanktionen auf die Wahrnehmung der Menschenrechte in Syrien für den UNO-Menschenrechtsrat stellte im November 2022 fest, daß die Zwangsmaßnahmen alle Versuche, wirtschaftlicher Erholung und Wiederaufbau im Land verhinderten. »Das Aufzwingen einseitiger Sanktionen auf zentrale Wirtschaftssektoren wie Öl, Gas, Strom, Handel, Baumaßnahmen und Technik habe das nationale Einkommen vernichtet«, so Alena Douhan auf einer Pressekonferenz in Damaskus am 10. November. Die wachsende Wirtschaftskrise führe zu einem massiven »Brain-Drain«, der massiven Abwanderung von Fachkräften.

Geldzahlungen zu blockieren und die Lieferungen von ausländischen Produzenten und Banken zu verweigern hätten zu ernsthaften Engpässen bei Arzneimitteln und medizinischer Spezialausrüstung“ geführt. Das betreffe insbesondere chronische und seltene Krankheiten. Im Oktober 2022 trat erstmals wieder die Cholera auf. Die öffentliche Gesundheit und die Ernährungssicherheit seien gefährdet, weil Sanierung und Ausbau u.a. der Wasserversorgungsnetze nicht vorankämen, sagte Alena Douhan. Es fehle an Ausrüstung und Ersatzteilen. Die UNO-Expertin, Professorin für Internationales und Humanitäres Recht, forderte »die sofortige Aufhebung aller einseitigen Sanktionen, die die Menschenrechte ernsthaft verletzen und jegliche Bemühungen für eine frühzeitige Erholung, den Wiederaufbau und die Rekonstruktion verhindern.«

Anfang August 2022 teilte das syrische Ministerium für Öl und Ressourcen mit, daß die USA-Armee und »ihre Söldner« täglich im Durchschnitt 66.000 Barrel Öl aus Syrien abtransportierten, etwa 80 Prozent der aktuellen syrischen Ölproduktion. Rußland und China haben wiederholt im Sicherheitsrat und im Menschenrechtsrat der UNO die Plünderung syrischer Ressourcen durch USA-Truppen kritisiert. Die USA geben an, die syrischen Ölressourcen lediglich »vor dem Zugriff durch den ‚Islamischen Staat‘ zu schützen«. Tatsächlich ist die Plünderung Teil einer Kriegswirtschaft, die den Schmuggel von Waffen, Menschen und Waren begünstigt und Korruption fördern.

Politischer Stillstand

Am 21. Dezember 2022 berichtete turnusgemäß der UNO-Sonderbeauftragte für Syrien, der norwegische Diplomat Geir O. Pedersen, dem UNO-Sicherheitsrat in New York über seine Bemühungen, einen politischen Prozeß entsprechend der Sicherheitsrats-Resolution 2254 voranzubringen. Die Resolution war nahezu auf den Tag genau sieben Jahre zuvor, am 18. Dezember 2015 beschlossen worden. Darin geht es um einen politischen Prozeß zwischen der syrischen Opposition und der syrischen Regierung unter dem Dach der UNO in Genf, der zu einer neuen Verfassung und Neuwahlen in Syrien führen sollte. Der Prozeß stocke, so Pedersen. Was nicht stocke sei der wirtschaftliche und soziale Niedergang Syriens.