Oradour-sur-Gaza
Am Samstag, dem 10. Juni 1944 drang eine Abteilung Waffen-SS in das französische Dorf Oradour-sur-Glane ein. Die Männer wurden exekutiert, die Frauen und Kinder in die Kirche getrieben, bevor diese niedergebrannt und bombardiert und das ganze Dorf in ein Ruinenfeld verwandelt wurde. Es gab 643 Opfer, davon 500 Frauen und Kinder, alles Zivilisten.
Der bewaffnete Widerstand gegen die Nazi Besatzung war im Südwesten Frankreichs sehr aktiv. Es gab hunderte, oft auch blutige Widerstandsaktionen, welche das Oberkommando der faschistischen deutschen Wehrmacht als »Terrorismus« bezeichnete. Eine spezielle Verordnung vom 3. Februar 1944, unterschrieben vom Generalfeldmarschall Hugo Sperrle, sollte der »Gegnerbekämpfung« neue Mittel geben und empfahl dazu Vergeltungsschläge, Kollektivstrafen, Niederbrennen von Häusern, Geiselnahmen oder Hinrichtungen ohne Verfahren und ähnliche Formen des Terrors gegen die Zivilbevölkerung. Für jeden gefallenen Soldaten der Besatzungsarmee sollten zehn Zivilisten gehängt werden. Die Schuld daran wurde den Partisanen, sprich »Terroristen«, zugeschoben. Die Soldaten der Wehrmacht genossen Straffreiheit. Die zivile Bevölkerung sollte auf diese Art eingeschüchtert und gegen die untergetauchten Partisanen aufgebracht werden.
Ich war noch ein Bub als bei der Heimfahrt von den sandigen Stränden der Atlantikküste, meine Eltern uns nach Oradour-sur-Glane mitnahmen. Ich stand damals, gut 20 Jahre nach der Befreiung vom Nazi-Faschismus, vor den Ruinen des als Gedenkstätte erhaltenen Märtyrerdorfes. Ich ahnte das Grauen und empfand Mitgefühl mit den Opfern. Zugleich wägte ich mich aufgehoben in einer besseren Welt, in welcher so etwas nie wieder geschehen durfte, in einer Welt, wo Entmenschlichung und brutalster Machtmissbrauch keinen Platz mehr haben durften.
Mit dieser Absicht hatte sich die Gemeinschaft der Nationen nach den Gräueln des 2. Weltkrieges, zumal dem Völkermord an den Juden, auf gemeinsame Regeln und völkerrechtliche Normen geeinigt, auf eine Menschenrechts-Charta, welche die Würde eines jeden Menschen gewährleisten sollte.
Selbst in Kriegen gibt es Regeln, und Zivilpersonen und zivile Infrastrukturen genießen besonderen Schutz. Das humanitäre Völkerrecht verbietet auch Angriffe auf medizinisches Personal und Kranke, genauso wie auf Journalisten. Humanitäre Hilfe für die leidende Bevölkerung darf nicht behindert werden. Ebenso sollen Waffenlieferungen unterbunden werden, falls ein eindeutiges Risiko besteht, dass diese für Verletzungen des Völkerrechtes eingesetzt werden.
Vor 15 Monaten, nach einem Angriff der Hamas auf israelisches Gebiet, bei dem fast 1.200 Menschen, inklusive 800 Zivilisten, davon 20 Kinder unter 14 Jahren, getötet und 251 Menschen verschleppt wurden, begann Israel einen tödlichen Bombenkrieg, gekoppelt mit Bodeninvasionen auf palästinensische Gebiete.
Das israelische Militär hat inzwischen weit mehr als 46.000 Palästinenser im Gazastreifen getötet, die angesehene medizinische Fachzeitschrift »The Lancet« schätzt die Zahl sogar um 41 Prozent höher. Laut UNO-Angaben zufolge sind 70 Prozent der Opfer Frauen und Kinder.
Zwei Millionen Menschen werden in einem Freiluftgefängnis hin und her gejagt und sind nirgendwo in Sicherheit; Tausende Menschen wurden verschleppt, ganze Wohnblöcke und zivile Einrichtungen wie Schulen und Krankenhäuser gezielt zerstört. Ein Großteil des Gazastreifens wurde in Schutt und Asche gelegt und praktisch unbewohnbar gemacht.
Bereits während des Libanonkriegs 2006 hatte der General Gadi Eizenkot die »Dahiya-Doktrin« entwickelt, welche massive Verwüstung des feindlichen Gebiets und direkte Vernichtung von zivilen, lebenswichtigen Infrastrukturen empfahl und vom israelischen Institut für nationale Sicherheitsstudien veröffentlicht wurde.
Im Gazastreifen hat das israelische Militär die »Regeln« zum Töten von Frauen, Kindern und anderen Zivilpersonen drastisch gelockert. Für die Eliminierung eines Hamas-Kämpfers ist ein »Kollateralschaden« von zwanzig oder gar hundert getöteten Zivilisten absolut akzeptabel – so berichtet eine am 26. Dezember veröffentlichte Recherche der »New York Times«. Durch langanhaltende und weitreichende Gewalt gegen die Bevölkerung sollen die Menschen von jeder Form von Widerstand abgeschreckt werden.
Seit über einem Jahr prangern Menschenrechtsgruppen Israels Verletzung des humanitären Völkerrechts in Gaza an, darunter Geiselnahme, Hinrichtungen, Folter und sexuelle Gewalt gegen Gefangene. Im Mai 2024 beantragte der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs Haftbefehle gegen Israels Premierminister und früheren Verteidigungsminister wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, einschließlich »Aushungern von Zivilisten als Methode der Kriegsführung«, »vorsätzliche Angriffe gegen die Zivilbevölkerung“ und „Ausrottung und/oder Mord«.
Renommierte internationale Organisationen wie Amnesty International, Human Rights Watch, die Internationale Föderation für Menschenrechte oder Médecins sans frontières (MSF) und Oxfam bezichtigen Israel inzwischen in präzisen, mit zahlreichen Fakten dokumentierten Berichten des vorsätzlichen Völkermordes. Die gleichen Warnungen kommen von führenden Holocaust- und Völkermordspezialisten – darunter auch Israelis.
»Der Albtraum von Gaza ist mehr als eine humanitäre Krise. Es ist eine Krise der Menschheit. Gaza wird zu einem Kinderfriedhof und ist derzeit der gefährlichste Ort auf Erden«, heißt es in einer UNO-Erklärung. Der Gazastreifen beherbergt heute die größte Zahl amputierter Kinder in der modernen Geschichte.
UNICEF und Save the Children schätzen die Zahl der getöteten Kinder auf über 20.000, ähnlich die Zahl der verwaisten Kinder, viele andere liegen noch unter den Trümmern ihrer Häuser, tot oder schwer verwundet und ohne Aussicht auf Hilfe. Die UNO zählt 650 Angriffe gegen medizinische Einrichtungen und 1.054 Opfer beim Gesundheitspersonal, Die Zahl der getöteten Journalisten wird auf über 145 beziffert, andere Quellen zählen mehr als 200, oft gezielt getötete Pressevertreter. Sogar Friedhöfe wurden verwüstet.
Israelische Kampfjets haben seit Oktober 2023 achtzigtausend Tonnen Bomben auf den Gazastreifen abgeworfen. Dafür haben die USA Israel mit Waffen im Wert von fast 18 Milliarden Dollar versorgt, die deutschen Rüstungsexporte nach Israel sind ebenfalls in die Höhe geschnellt. Im Gazastreifen werden neueste Hightech-Waffen an einer schutzlosen Bevölkerung getestet, um später mit dem Label »tested on the ground« in alle Welt verkauft zu werden.
»L’hypocrisie des États alliés d'Israël est particulièrement choquante. D’un côté ils condamnent mollement les conséquences de la guerre menée par Israël et d’un autre côté ils continuent à supporter politiquement et militairement Israël«, so Isabelle Defourny, Präsidentin von MSF Frankreich bei ihrer Rückkehr aus dem Gazastreifen.
Dabei ist ein Genozid das schlimmste aller Verbrechen, im Völkerstrafrecht deswegen als »crime of crimes« bezeichnet. Gerade in Ländern wie Luxemburg, die sich als Rechtsstaaten definieren und der Völkermordkonvention beigetreten sind, erwarten die Bürger von ihrer Regierung, dass sie alles tut, um einen Völkermord zu stoppen und das durch Israels Vorgehen gefährdete Völkerrecht zu stärken. Doch viele westliche Politiker und Medien schauen lieber weg und leugnen die Realität.
Die Haltung und das Abstimmungsverhalten Luxemburgs in den Gremien der UNO und der Internationalen Justiz stehen zwar im Einklang mit internationalem Recht, und die Luxemburger Regierung hat sich auch dazu bekannt, im Rahmen ihrer Pflichten gegebenenfalls den wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagten israelischen Premier auszuliefern. Ansonsten fehlt es der Regierung jedoch an Kohärenz und ihre Mitglieder verschanzen sich hinter Schweigen, so als ob für sie ein Menschenleben im Gazastreifen kaum Gewicht hätte.
In einem Neujahrsinterview vor einem Jahr erklärte Premierminister Luc Frieden, eine »Demokratie« (Israel) habe »das Recht, sich zu verteidigen« und es sei nicht an ihm »zu urteilen«, wann dieses Land aufhören müsse »zu reagieren«. Im Interview dieses Jahr sieht er immer noch die Ursache allen Übels allein bei der Hamas.
Außenminister Xavier Bettel sprach sich in den Medien gegen ein Waffenembargo aus und erwägt gar die Möglichkeit – gerade jetzt – die diplomatischen Beziehungen zu Israel aufzuwerten und eine Luxemburger Botschaft in Tel Aviv zu eröffnen. Beide Minister halten nichts von externem Druck und Sanktionen gegen Israel, beklagen jedoch zugleich, keine Mittel zu haben, dem alltäglichen Morden, der willkürlichen Gewalt und der Blockade des Gazastreifens ein Ende zu setzen. Die Ankündigung, den Staat Palästina noch vor Ende 2024 völkerrechtlich anzuerkennen, scheint ebenso vergessen.
Heute fühle ich mich nicht mehr aufgehoben in einer besseren Welt; heute habe ich kein Vertrauen mehr in den Kurs der Europäischen Union und in deren mit viel Selbstgerechtigkeit gefeierten »Wertegemeinschaft«.
Ungeachtet ihrer völkerrechtlichen Verpflichtung zur Prävention riskiert die EU in die Geschichte einzugehen als Unterstützerin eines Genozids. Immer mehr Menschen weltweit durchschauen die Doppelstandards und Doppelmoral, ja die siedler-koloniale Mentalität der »westlichen« Länder im Einflussbereich der USA.
Es bleibt der Glaube, dass eine andere Welt möglich ist. Eine Welt ohne Kolonialkriege, in der die unfassbaren Traumata heilen, in der alle Verschleppten freikommen, in der die Schwächsten ein Recht auf Schutz und Leben in Würde und die Unterdrückten ein Recht auf Selbstbestimmung haben.