Leitartikel13. April 2021

Halbe Wahrheiten sind ganze Lügen

von

Was haben Juri Gagarin, der deutsche Bundespräsident und die Krise in der Ukraine gemeinsam? Auf den ersten Blick nicht sehr viel, aber bei genauerem Hinsehen ergeben sich doch Gemeinsamkeiten.

Daß Juri Gagarin von 60 Jahren als erster Mensch in den Weltraum geflogen ist, dürfte allgemein bekannt sein. Jeder einigermaßen aufmerksame Zeitungsleser weiß auch, daß es die Sowjetunion war, die diese außerordentliche Pionierleistung vollbracht hat. Was aber wissen jüngere Menschen über den ersten Kosmonauten? Die Nachrichtenagentur dpa jedenfalls will offenbar erreichen, daß unsere Kinder nur noch die halbe Wahrheit erfahren. In ihrer Rubrik »Kindernachrichten« hat es die deutsche Staatsagentur fertiggebracht, einen 436 Wörter umfassenden Artikel zu verbreiten, in dem der Begriff »Sowjetunion« kein einziges Mal vorkommt. Die Kinder sollen also nur einen Teil der Wahrheit erfahren, umso leichter ist es, sie auch später mit halben Wahrheiten und ganzen Lügen zu füttern.

Der deutsche Bundespräsident hat sich am Wochenende zu einem Gedenken nach Buchenwald begeben. Dort wurden Kränze für die Opfer des faschistischen Konzentrationslagers niedergelegt. Selbstverständlich erfährt man in der Berichterstattung nichts über die politischen Hintergründe jener historischen Ereignisse, nichts über die politischen Gefangenen des Hitler- und SS-Regimes und schon gar nicht, daß das Lager am 11. April 1945 von den Häftlingen selbst befreit wurde, unter Führung des illegalen Lagerkomitees, an dessen Spitze Kommunisten aus mehreren Ländern standen. Stattdessen wird erneut die historische Lüge von der »Befreiung durch amerikanische Truppen« aufgewärmt. Tatsächlich hatten die Einheiten der US Army etliche Kilometer vor Buchenwald eine Pause eingelegt, obwohl ihnen die Nachricht von der Existenz des KZ zugetragen worden war. Erst nach längerer Rast bemühten sie sich auf den Ettersberg und nahmen das bereits durch die Häftlinge befreite Territorium völlig kampflos ein.

Die Nachrichten über die zugespitzte Lage in der Ukraine geistern seit Tagen durch sämtliche Medien. Da ist die Rede von Gefechten mit »Separatisten« an den Grenzen der Donbass-Region und von toten und verletzten ukrainischen Regierungssoldaten. Tatsächlich führen reguläre Einheiten der ukrainischen Regierung und Milizen unterschiedlicher Couleur immer wieder Angriffe auf das Territorium der selbsternannten Volksrepubliken durch, um dadurch größere Zwischenfälle und möglicherweise einen offenen Krieg zu provozieren. Und dann kommen die täglichen Berichte über russische Truppenbewegungen – die tatsächlich stattfinden, um russisches Gebiet im Falle eines größeren Konflikts zu schützen. Allerdings wird »vergessen« zu melden, daß diese Bewegungen auf dem eigenen, dem russischen Territorium stattfinden. In den großen Medien ist auch keine Erwähnung darüber zu finden, daß gleichzeitig militärische Einheiten aus fast allen NATO-Staaten konzentriert werden, um erneut großangelegte Übungen für einen Angriff auf Rußland zu proben.

Das Manöver »Defender Europe 2021« kommt in den bürgerlichen Medien ebensowenig vor wie »Selbstbefreiung« des KZ Buchenwald oder »Sowjetunion« bei den Kindernachrichten über den ersten Weltraumflug des sowjetischen Kommunisten Juri Gagarin.

Darum wird eine Zeitung gebraucht, die da weiterschreibt, wo die anderen aufhören…