So spielen sie mit einer Waffe
Was ist da geschehen, und was geschieht auch weiterhin mit uns?
Die Atommacht Russland führt Krieg gegen die Ukraine, und jemand, der angesichts dessen und der Tatsache, dass unter den die Ukraine sehr offen und massiv unterstützenden westlichen Mächten sich drei befinden, die ebenfalls Atommächte sind – nämlich die USA, Großbritannien und Frankreich –, und dass weiter die Atommacht USA einige ihrer Atomwaffen auf deutschem Territorium stationiert hat – jemand, der also angesichts dieser nicht anders als irrwitzig zu bezeichnenden Situation sofortige Friedensverhandlungen unter gegenseitiger Anerkennung der Interessen aller beteiligter Seiten fordert, um erstens das Blutvergießen zu beenden und zweitens eine nukleare Katastrophe zu verhindern, sieht sich in Deutschland ganz schnell einer politischen und medialen Kampagne ausgesetzt, die mit dem Vorwurf des »naiven Friedenswunsches« und »kindlichen Pazifismus« beginnt, sich mit der Verächtlichmachung anderer als der regierungsoffiziellen Darstellungen der Vorgeschichte, der Ursachen und des Verlaufs des Krieges fortsetzt und schließlich in Kampfbegriffe wie »Lumpenpazifismus« und »Russenknecht« mündet.
»Frieden« ist seit der von Bundeskanzler Scholz nach dem russischen Überfall im Februar 2022 verkündeten »Zeitenwende« ein besonders dramatisch umkämpftes Wort. Frieden sei nicht das Wichtigste, hören wir, und das Allerschlimmste sei ein Diktatfrieden, und wer den Frieden wolle, müsse den Krieg vorbereiten, und so seien also Aufrüstung und Herstellung von Kriegstüchtigkeit Friedenskampf und die Erzeugung und Pflege von Feindbildern auch. Und in dieser Feindbildproduktion ist der russische Präsident Putin dann an einem Tag jemand, der bedenkenlos seine Atomwaffen einsetzen würde, weshalb man dringend und schnellstens aufrüsten und gar – man will es nicht glauben! – nach eigenem Atomwaffenbesitz streben müsse, und dann wieder einer, der mit seinen Atomwaffen bloß blufft, weshalb man nicht in Angststarre verfallen dürfe.
So spielen sie mit einer Waffe – und lassen dieses Spiel alltäglich in die Köpfe sickern so lange, bis der Krieg zu einer alltäglichen, irgendwie dazugehörenden und daher leichthin zu beredenden Angelegenheit wird –, von der 1945 ganze zwei Exemplare genügten, um 500.000 Menschen zu Tode zu bringen. Fünfhunderttausend. Einen Großteil davon binnen weniger Sekunden, und viele Zehntausende Weitere nach wochen-, monate-, jahre- und jahrzehntelanger quälender Strahlenkrankheit.
Die Charta der Vereinten Nationen wurde am 26. Juni 1945 in San Francisco unterzeichnet. Das ist fast genau einen Monat, bevor USA-Präsident Truman von Potsdam aus den Befehl zum Atombombenabwurf auf japanische Städte gab. Es ist diese schwierige Volte der Geschichte, dass sich die Sieger über den deutschen Faschismus zu ihrer weltweiten internationalen Konferenz in San Francisco schon trafen, als Japan, der Achsenpartner Deutschlands, noch nicht geschlagen war. Japan kapitulierte erst am 15. August, das endgültige Kriegsende war erst am 2. September erreicht.
Die beiden Atombombenabwürfe fallen also in eine Zeit, da in San Francisco schon eine Charta beschlossen war, in der in der Präambel der Wille zum Ausdruck kam, »künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat«, und im Artikel 1 das Ziel benannt wurde, »den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen und beizulegen«.
Nichts, aber auch gar nichts findet sich in der Charta, womit ein unablässiges Aufrüsten, die Entwicklung von Atombomben oder gar deren Einsatz zu begründen oder zu rechtfertigen wäre. Alles in ihr ist vielmehr darauf ausgerichtet, zu verhindern, dass Kriege überhaupt entstehen können.
Nun hat sich die Welt nicht so entwickelt, dass diese Ziele bisher erreicht werden konnten. Aber ist das ein Grund, sie nun völlig vergessen zu machen? Ist mit dem bisherigen Nichtgelingen gerechtfertigt, diese Ziele ganz und gar in die Tonne der Weltgeschichte zu treten und sich aller Beschränkungen und universalen Regeln zu entledigen? Und damit die Auslöschung der Menschheit selbst zu riskieren?
Ich weiß, es gibt viele, die wollen um des lieben Friedens willen – und niemand kann ihnen dieses Wollen verdenken! –, dass man in einer Rede wie der heutigen auf scharfe, gar Klassenfragen aufrufende Argumentationen verzichte. Ich aber, der ich mich seit 50 Jahren mit dieser Frage von Krieg und Frieden befasse und 1981 als Journalist aus der DDR das erste Mal im Friedenspark von Nagasaki stand und 1985 das erste Mal in dem von Hiroshima, kann das nicht.
Denn die Atombombenabwürfe hatten nun einmal einen konkreten Akteur mit konkreten Weltherrschaftsinteressen, und das waren der militärisch-industrielle Komplex und die Regierung der USA, und es war der Premierminister Großbritanniens Winston Churchill, der in seinem Geschichtswerk »Der zweite Weltkrieg« die weit über den Krieg hinausreichende Bedeutung der Atombombenabwürfe so beschrieb: »[…] wir brauchten die Russen nicht mehr. […] Plötzlich schien uns das Mittel in die Hand gegeben, durch das sich nicht nur das Gemetzel im Fernen Osten gnädig abkürzen ließ – auch die Aussichten für die Zukunft Europas schienen rosiger geworden.« (Winston Churchill, »Der zweite Weltkrieg«, Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt a. M. 2003, S. 1090.)
Die »gnädige Abkürzung« und die »rosigere Zukunft Europas« bezahlten eine halbe Million Zivilisten – überwiegend Japanerinnen und Japaner, aber auch Zehntausende aus dem damals von Japan kolonisierten Korea verschleppte Koreanerinnen und Koreaner – mit dem Leben in einem Krieg zwischen den USA und Japan, in dem die USA schon zuvor mit dem konventionellen Bombenangriff auf Tokio am 9. März 1945 Zehntausende Zivilisten zu Tode gebracht hatten.
Damit hier kein Missverständnis aufkommt: Japan, mit dem faschistischen Deutschland verbündet, war der Aggressor in diesem asiatisch-pazifischen Krieg, daran gibt es nichts zu deuteln. Die Zahl der Toten aber sagt etwas über die Kriegführung: Die USA verloren im Pazifikraum 161.000 Menschen, darunter vorwiegend Soldaten; Japan verlor ungefähr 1,2 Millionen Soldaten und mehr als eine halbe Million Zivilisten. Japanische Angriffe auf das Festland der USA gab es abgesehen von einigen kleinen, für den Kriegsverlauf völlig bedeutungslosen Attacken gar nicht.
Als die Welt in Trümmern lag – und es war im Sommer 1945 tatsächlich die Welt, die in Trümmern lag, nach diesem ungeheuerlichen Krieg mit seinen über 60 Millionen Toten –, war der Ruf nach Frieden so stark und so allgemein, dass es zur Vereinbarung der besagten und zitierten UNO-Charta mit ihrem unbedingten Friedensimperativ kommen konnte.
Die Menschheit braucht, will sie fortbestehen, eine Erneuerung dieses Imperativs. Und wer da meint, dies sei naiv, der stelle sich vor, die ungeheuren Finanzmittel, die derzeit in die Rüstung fließen, flössen in friedliche Mittel zur Friedenssicherung.
Im Friedenspark von Nagasaki steht eine Stele der Völkerfreundschaft, gewidmet vom Friedensrat der DDR, eingeweiht von Erich Honecker bei seinem Japan-Besuch am 31. Mai 1981. Dass wir hier diese Friedensglocke haben, aufgestellt, als der Osten Berlins noch Hauptstadt der DDR gewesen ist, hat auch mit der Stele dort zu tun.
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Auszüge aus einer Rede am 9. August auf der Mahn- und Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag des Atombombenabwurfs der USA auf Nagasaki an der Friedensglocke in Berlin
(Vollständiger Wortlaut auf: https://www.asiaticus.de)