Ausland24. November 2021

Fast schon Bürgerkrieg

Proteste gegen Impfpflicht und soziale Benachteiligung auf französischer Karibik-Insel

von Ralf Klingsieck, Paris

Im französischen Übersee-Departement Guadeloupe herrschen seit Tagen bürgerkriegsähnliche Zustände. Dabei sind die Anti-Corona-Maßnahmen der Behörden oft nur ein Vorwand für Gewaltakte. In Basse-Terre, der Hauptstadt der Karibik-Insel, prägen ausgebrannte Autos das Bild. An vielen Kreuzungen haben Jugendliche Straßensperren errichtet, um den Verkehr zu blockieren. Mehr als 80 Geschäfte und auch einige Bankfilialen wurden zerstört und geplündert.

Wo die Polizei auftaucht, aber auch wo die Feuerwehr Brände löschen will, wird auf sie scharf geschossen und es gab schon mehrere Verletzte. Wegen der explosiven Lage hat der Präfekt bis auf weiteres die Schulen geschlossen und eine nächtliche Ausgangssperre verhängt, die aber nicht überall befolgt wird. Bisher wurden 67 Personen verhaftet und sie werden in den nächsten Tagen in einem Schnellverfahren vor Gericht abgeurteilt.

Die Gewaltakte gehören zu den massiven Protestaktionen bis hin zu einem vor einer Woche ausgerufenen Generalstreik gegen die Impfpflicht für Mitarbeiter des Gesundheitswesens und gegen den für alle Bürger der Insel vorgeschriebenen Impfpaß. Bislang sind hier erst 60 Prozent der Ärzte und Schwestern mindestens einmal gegen Corona geimpft, und in der Gesamtbevölkerung der Insel sind es lediglich 45 Prozent. Das liegt weit unter dem Durchschnitt von Frankreich, wo 75 Prozent der Bevölkerung und mehr als 90 Prozent der Beschäftigten im Gesundheitswesen bereits geimpft sind.

Auf der Karibik-Insel sind die Krankenhäuser und vor allem ihre Intensivstationen mit Corona-Patienten überfüllt, so daß neue Fälle kaum noch aufgenommen werden können. Trotz dieser Zustände und der im Vergleich zu den knapp 400.000 Einwohnern der Insel hohen Zahl von mehr als 300 Toten allein seit August – ebenso viele wie im ganzen Jahr 2020 – gibt es einen umfangreichen »Kern« von Impfgegnern. Das ist auf tief verwurzelten Aberglauben und Traditionen bei der Behandlung von Krankheiten durch Rituale und durch einheimische Heilpflanzen zurückzuführen, aber auch auf das nach wie vor verbreitete Mißtrauen gegen die ehemalige Kolonialmacht.

Dabei verläuft die Frontlinie oft anders als vermutet. So hat der Führer der Unabhängigkeitsbewegung Luc Reinette seine Landsleute zum Impfen aufgerufen, doch er hat weniger Erfolg als der charismatische Generalsekretär des regionalen Gewerkschaftsverbandes Union générale des travailleurs de Guadeloupe (UGTG) Elie Domota, der gegen das Impfen agitiert. Dabei scheut er sich nicht, Fake News von Verschwörungstheoretikern in den sozialen Medien aufzugreifen.

Andere Gewerkschafter und linke Politiker, die zum Impfen aufrufen, auch wenn sie die Proteste verstehen und im Prinzip unterstützen, solange sie friedlich bleiben, versuchen zwischen den Protestierern und den Behörden zu vermitteln. Als Kompromiß haben sie vorgeschlagen, Impfpflicht und Impfpaß für Guadeloupe auszusetzen und hier durch regelmäßige Kontrollen zu ersetzen. Doch darauf will sich die Pariser Regierung nicht einlassen, um keinen Präzedenzfall zu schaffen. Statt dessen wurde eine sonst nur bei Terrorakten eingesetzte Spezialeinheit der Gendarmerie eingeflogen, um die Polizei zu unterstützen.

Dabei wird kaum berücksichtigt, daß die Protestaktionen zwar unmittelbar die gegenwärtige Epidemie betreffen, daß sie aber auch ein Ausdruck der seit Jahren angestauten Unzufriedenheit über die soziale Lage im Übersee-Departement sind, die jetzt in Form von Gewaltakten explodiert ist.

Durch die weit überdurchschnittliche Jugendarbeitslosigkeit sieht vor allem die junge Generation in Guadeloupe keine Zukunftschancen. Die gesamte Bevölkerung klagt über die drastisch steigenden Lebenshaltungskosten, weil die Löhne, Renten und Sozialunterstützungen hinter den galoppierenden Preisen für Lebensmittel, Konsumgüter und Treibstoff hinterherhinken, die weit höher sind als im »Mutterland« auf dem europäischen Kontinent.