Ausland11. Dezember 2015

Politik des Massenmords

Vor 40 Jahren überfiel der indonesische Diktator Suharto Osttimor. 1999 richtete sein Militär dort erneut ein Blutbad an. Insgesamt starb ein Viertel der Bevölkerung (1. Teil)

Selten genug kommt es vor, daß ein Lied als Fanal zu Widerstand und Aufstand diente. Doch am 25. April 1974 geschah in Portugals Hauptstadt Lissabon genau das, als kurz nach Mitternacht der katholische Sender »Rádio Renascença« das Lied »Grândola, vila morena« des Protestsängers José Afonso spielte. Im Text geht es um Solidarität und um einen schönen Ort, an dem endlich das Volk Ohnmacht überwindet, die Fesseln sprengt und über seine Geschicke bestimmt. Und just dieser Song war das Signal zum Zuschlagen für alle militärischen Einheiten, die sich zur »Bewegung der Streitkräfte« (MFA) bekannten. Ein Sammelbecken all jener Offiziere und einfachen Soldaten, die es satt hatten, noch länger unter der ältesten Diktatur Westeuropas, der Statthalter und verruchten Geheimdienstleute des faschistischen »Neuen Staates« sowie seines Gründers António de Oliveira Salazar, zu leben.

Binnen weniger Stunden besetzten MFA-Mitglieder sämtliche strategisch bedeutsamen Orte des Landes. Die Stimmung war überwältigend. Entgegen den Anweisungen der neuen Machthaber, ruhig in den Häusern zu bleiben, strömten die Menschen auf die Straßen und feierten das Ende des verhaßten Regimes. Da die Blumenfrauen Lissabons den Soldaten rote Nelken in die Gewehrläufe steckten, wurde der Begriff »Nelkenrevolution« geboren.

Das arme, agrarisch orientierte, stockkatholisch ausgerichtete Land hatte sich allzu lange den »Luxus« geleistet, Kolonialkriege in Übersee zu führen und dafür die Hälfte des Staatshaushalts zu verpulvern. Immer stärker war seit Mitte der 1960er Jahre eine Antikriegsstimmung spürbar, die auch innerhalb der Streitkräfte rumorte und sich schließlich an jenem Apriltag des Jahres 1974 explosionsartig entlud.

Schnell sprangen die Funken der »Nelkenrevolution« auf die alten Kolonialbesitzungen über. Noch im selben Jahr erlangte Guinea-Bissau die Unabhängigkeit, ein Jahr später folgten dann Angola und Moçambique in Afrika sowie die Inselgruppen São Tomé und Príncipe sowie Kap Verde im Atlantik und schließlich in Südostasien Portugiesisch-Timor beziehungsweise Osttimor (Timor Leste). In all diesen Gebieten folgte eine Dekolonialisierungspolitik, die Kritiker später als überhastet und katastrophisch bezeichneten. Und zwar deshalb, weil es zeitgleich mit dem raschen Abzug bzw. Weggang der Portugiesen zu verheerenden Bürgerkriegen kam, die vor dem Hintergrund des Kalten Krieges zumindest zeitweilig den Charakter von Stellvertreterkriegen annahmen.

Sieg der Befreiungsbewegung

Im fernen Osttimor führte die Euphorie im »Mutterland« immerhin dazu, daß sich politische Parteien nunmehr ungehindert von kolonialer Kontrolle und Gängelung frei entfalten konnten. Mit dem Resultat, daß drei unterschiedliche ideologische Strömungen um Hegemonie rangen.
Bereits am 20. Mai 1974 konstituierte sich unter der Führung von Francisco Xavier do Amaral, Nicolau dos Reis Lobato und anderen die linksorientierte Sozialdemokratische Vereinigung Timors (ASDT), die sich aber bereits Mitte September desselben Jahres in Fretilin, Revolutionäre Front für die Unabhängigkeit von Timor-Leste (Osttimor), umbenannte. Sie genoß den mit Abstand größten Rückhalt in der Bevölkerung und war vor allem auf dem Lande beliebt.

Gleichzeitig war sie die einzige politische Organisation, die für eine schnelle Abnabelung vom »Mutterland« votierte. Sie rief am 28. November 1975 die Unabhängigkeit der Demokratischen Republik Osttimor aus, um sich eines größeren Rückhalts seitens der UNO zu versichern. Amaral wurde erster Präsident und sein Mitstreiter Lobato erster Premierminister des neugegründeten Staates.

Die zweitstärkste politische Kraft bildete die am 11. Mai gegründete Demokratische Timoresische Union (UDT), die eine Bindung zur ehemaligen Kolonialmacht bevorzugte und deren Anhänger sich im Sommer 1975 blutige Gefechte mit der Fretilin lieferten. Da Lissabon sich auffällig bedeckt hielt, bildeten die Osttimoresen, die bisher in der portugiesischen Armee gedient hatten, den Kern der Bewaffneten Kräfte zur nationalen Befreiung Osttimors (Falintil). Bis zur endgültigen Unabhängigkeit des Landes und internationalen Anerkennung als souveräner Staat am 20. Mai 2002 hatten die Falintil als militärischer Arm oder Guerillaorganisation der Fretilin die Speerspitze des osttimoresischen Widerstands gegen die indonesische Besatzung von 1975 bis 1999 gebildet.

Als kleinste der drei politischen Parteien agierte mit der Timoresischen Volksdemokratischen Assoziation (Apodeti) eine Gruppierung, deren Mitglieder und Sympathisanten während des Zweiten Weltkriegs mit der japanischen Besatzungsmacht kollaboriert hatten und die später proindonesische Positionen bezogen beziehungsweise sich 1975 für einen Anschluß Osttimors an Indonesien aussprachen. Zusammen mit der UDT diente sich die Apodeti als Statthalter der indonesischen Okkupationstruppen an.

Neben Washington und Jakarta warf in jenen Tagen auch die australische Regierung in Canberra der Fretilin vor, eine marxistische Organisation zu sein. Es ging die Angst um, »vor der Haustür« könnte mit einem »kommunistischen Osttimor« ein »zweites Kuba« – diesmal in Südostasien – entstehen. Und das ausgerechnet zu einer Zeit, da die Supermacht USA ein klägliches Scheitern in Vietnam, Kambodscha und Laos hinnehmen mußte. Nachdem die USA-Regierung bereits ein Jahrzehnt zuvor alle Hebel in Bewegung gesetzt hatte, um mit »ihrem Mann« in Gestalt von Generalmajor Suharto einen knallharten prowestlichen Präsidenten in Indonesien zu installieren, lag nichts näher, als eben diesem Verbündeten freie Hand zu lassen, ein zweites Mal »mit den Kommunisten aufzuräumen«.

Das antikommunistische Kesseltreiben Suhartos und seiner Soldateska von 1965/66 fand seine Fortsetzung seit Mitte des Jahres 1975 in Osttimor. Um angeblich »Anarchie und Chaos« abzuwenden, besetzten indonesische Truppen seit dem Sommer nach und nach Teile Osttimors. Am 7. Dezember 1975 – neun Tage nach Ausrufung der Demokratischen Republik – blies Jakarta schließlich zur großangelegten Invasion und verleibte sich im Juli 1976 das von ihm nunmehr Timor Timur (Osttimor) genannte Gebiet als 27. Provinz der Republik Indonesien ein.

Besatzungsmacht Indonesien

Für die Zivilbevölkerung der vormaligen portugiesischen Kolonie begann die düsterste Ära ihrer Geschichte, ein Grauen, das erst mit dem Rücktritt von Suharto im Mai 1998 enden sollte. Fast sah es so aus, als wäre es den indonesischen Besatzern gelungen, die Widerstandskämpfer der Falintil völlig aufzureiben, bis diese unter der Führung ihres 1981 gewählten Kommandeurs Xanana Gusmão gezielt zur Guerillataktik übergingen. Immerhin gelang es den Guerilleros trotz massiver Menschenrechtsverletzungen und Greueltaten seitens der Besatzungstruppen, im Sommer 1980 Gegenoffensiven zu starten, Fernsehsender, militärische Einrichtungen und Waffenlager nahe der Hauptstadt Dili anzugreifen und so ein Zeichen eines »Levantamento«, einer Erhebung in diesem Auszehrungskrieg zu setzen. Laut Untersuchungen von Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen kamen in Folge der indonesischen Besatzung von Ende 1975 bis zum Frühjahr 1998 etwa 200.000 der 800.000 Einwohner Osttimors ums Leben.

Exekutiert wurde dieser Genozid von den Sicherheitskräften eines Regimes, dessen Oberhaupt der südostasiatische Darling der »westlichen Wertegemeinschaft« war. Indonesien, der bevölkerungsreichste und größte Staat der Region, sollte unbedingt ein Vorposten westlicher Interessen bleiben, den es ein für allemal »vom Virus der Subversion und Instabilität«, so der damalige USA-Außenminister Henry A. Kissinger, zu befreien galt. Aus diesem Grund wurden sämtliche innen- wie außenpolitischen Schandtaten während der Suharto-Ära in den westlichen Hauptstädten stillschweigend geduldet. Schließlich wollte man das eigene Business und die lukrativen Aufträge aus Jakarta nicht gefährden.

Zweifellos waren die Regierungen der USA und Australiens die engsten Verbündeten der Machthaber in Jakarta. In London, so der frühere britische Botschafter in Indonesien, John Ford, brüstete man sich mehrfach öffentlich damit, die Kontroverse um »die Vorfälle in Osttimor« vom Parkett der internationalen Politik und Diplomatie ferngehalten zu haben, vor allem als Großbritannien den Vorsitz im UNO-Sicherheitsrat innehatte. Selbst der Tod zweier britischer Journalisten, die im Oktober 1975 in Osttimor bei Recherchen von indonesischen Sicherheitskräften umgebracht worden waren, war London keiner hartnäckigen Untersuchung wert. Resolutionen oder Engagements zugunsten der geschundenen Zivilbevölkerung Osttimors seitens der UNO wurden allenfalls belächelt. Erst ab 1996 erlangte Osttimor ein wenig internationale Aufmerksamkeit, als José Ramos-Horta, Mitbegründer der Fretilin, Außenminister der Demokratischen Republik Osttimor und Vertreter des osttimoresischen Widerstands bei den UNO in New York, sowie sein Landsmann und Bischof von Dili, Carlos Filipe Ximenes Belo, den Friedensnobelpreis erhielten.

Kissinger drängte zum »Quick fix«

Der damalige USA-Präsident Gerald R. Ford und sein Außenminister Kissinger hatten sich nicht nur für massive Waffenlieferungen an Jakarta stark gemacht. Das Regierungstandem befand sich Ende 1975 auch auf Stippvisite in Ost- und Südostasien und stattete Suharto just einen Tag vor der indonesischen Invasion in Osttimor am 7. Dezember 1975 einen Besuch ab. Dabei ging es nicht nur um die politisch-diplomatische Aufwertung des engen Verbündeten in Jakarta. Ford und Kissinger waren voll in die bevorstehenden Invasionspläne eingeweiht und unterhielten sich darüber hinaus explizit mit Suharto über das Thema, wie lange wohl ein Guerillakrieg seitens der Falintil andauern könnte.
Die Gäste aus den USA enthielten sich jedweder Kritik. Mehr noch: Kissinger gab Suharto zwei Hausaufgaben auf. Erstens: Jakarta sollte die Invasion erst beginnen, wenn die beiden »Freunde aus den USA« wieder in Washington gelandet seien. Just so geschah es denn auch. Zweitens: Suharto wurde zum »Quick fix« gedrängt. Das Militär sollte den Einmarsch auf schnellstmöglichem Wege – sozusagen als »chirurgischen Schnitt« – durchführen.

Für Kissinger war das einzige Problem, wie man am effektivsten die Tatsache vertuschen und verschweigen konnte, daß die indonesische Invasion vor allem mit zuvor gelieferten USA-Waffen durchgeführt wurde. Nach Washington zurückgekehrt, entspann sich Anfang Dezember im State Department zudem eine hitzige Debatte zwischen dem Außenminister und seinem Stab, ob das Vorgehen Jakartas rechtens und zu billigen sei. (Das mußte Kissinger ziemlich gereizt haben, wie Aufzeichnungen über das Treffen sowie vom National Security Archive, eine Forschungseinrichtung der George-Washington-University, 2001 und 2005 freigegebene Dokumente einwandfrei belegen.) Der State-Department-Chef konterte diese kritischen Nachfragen mit der ihm eigenen Derbheit: »Ich weiß, was das Gesetz ist. Doch kann es in unserem nationalen Interesse liegen (…), wegen Osttimor den Indonesiern die Zähne einzuschlagen?«

Bereits im Oktober 1975, also etwa sechs Wochen vor der Osttimor-Invasion, hatten indonesische Eliteeinheiten dort mit Wissen Kissingers Geheimoperationen durchgeführt. Daraufhin beschwor dieser seine engsten Vertrauten: »Ich gehe davon aus, daß Sie in dieser Angelegenheit wirklich den Mund halten.« In einem exklusiv für den Außenminister bestimmten Memorandum hatte David Newsom, zu der Zeit USA-Botschafter in Jakarta, schon im März 1975 – knapp neun Monate vor der Osttimor-Invasion – skizziert, worum es eigentlich ging: »Die USA haben beträchtliche Interessen in Indonesien und keine in Timor.« Unmittelbar nach Bekanntwerden der Dokumente insistierte Brad Simpson, Historiker an der University of Maryland und Direktor des Indonesien- und Osttimor-Dokumentationsprojekts des genannten Archivs, auf »die Notwendigkeit, international auf eine genuine Aufklärung hinzuarbeiten und die Schuldigen der unsäglichen Leiden in Osttimor zu benennen.«

Blutiges Referendum

Als Suharto nach massiven politischen Unruhen infolge der Nachwirkungen der Finanzkrise in Südost- und Ostasien im Mai 1998 von der Bühne abtrat, vollführte sein Nachfolger, Bacharuddin Jusuf Habibie, eine Kehrtwende in der Politik gegenüber Osttimor. Zum Jahresbeginn 1999 verkündete Habibie den Plan, die dortige Bevölkerung binnen weniger Monate in einem Referendum über Autonomie, Unabhängigkeit oder den Verbleib bei Indonesien abstimmen zu lassen. Dafür hatte er vorrangig wirtschaftliche und politische Gründe. Er sah in Osttimor eine zusätzliche ökonomische Belastung und wollte das wegen der Annexion entstandene negative Image seines Landes loswerden. Mit Blick auf die bevorstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen gerierte er sich als »demokratischer Erneuerer«.

Da hatte das neue Staatsoberhaupt allerdings übersehen, daß das nach wie vor mächtige Militär sich der »Dwi fungsi«-Doktrin verpflichtet fühlte. Demnach kam ihm eine Doppelfunktion zu: Im Inneren sollte es sozialpolitisch im Sinne von Ruhe, Ordnung und Stabilität wirken und gleichzeitig als Wahrer nationaler Integrität und Souveränität den unbedingten Zusammenhalt des Staatsverbandes garantieren. Zwar opponierten die Streitkräfte nicht offen gegen Habibie. Sie unternahmen allerdings hinter den Kulissen alles, um das Osttimor-Referendum zu unterlaufen und die Lage dort zu destabilisieren.

Nach mehrfachen Verzögerungen fand schließlich am 30. August 1999 der Volksentscheid statt. Überwältigende 78,5 Prozent stimmten für die Unabhängigkeit Osttimors von Indonesien. Mit einem solchen Ergebnis hatte der neue Mann im Präsidentenpalast zu Jakarta nicht gerechnet. Wohl aber hatte das Militärestablishment derartiges geahnt und entsprechende »Vorkehrungen« getroffen. Die Armee opponierte, proindonesische Milizen brandschatzten, mordeten und vertrieben etwa 250.000 Menschen auf Osttimor. Habibie mußte abdanken. Die neue Regierung unter Abdurrahman Wahid respektierte immerhin das Votum für Osttimors Unabhängigkeit, wenngleich er der marodierenden Soldateska keinen Einhalt zu gebieten vermochte. In Osttimor bedeutete das Votum einen Sieg, um den man monatelang den Sieger nicht beneiden konnte.

Am 7. September zitierte die französische Nachrichtenagentur AFP einen proindonesischen Milizenführer, der die Strategie Jakartas ungeschminkt offenlegte: Ziel sei es, bis zu 300.000 Osttimoresen gewaltsam in die Berge zu treiben oder in den (indonesischen) Westteil der Insel zu deportieren und Osttimor mit Indonesiern neu zu bevölkern. Die unmittelbare Verbindung zwischen Milizen und Militär stand außer Zweifel, was unter anderem von der BBC mitgeschnittene Funkgespräche zwischen beiden Parteien einwandfrei belegten. Makaber war an alledem, daß ausgerechnet die indonesischen Streitkräfte mit der Überwachung der ordnungsgemäßen Durchführung des Referendums betraut worden waren!

Rainer Werning

wird fortgesetzt