Marlis Albrecht & Gabriele Wanner : Röntgenblicke
Höchste Zeit, hab ich mir gedacht, als ich die Einladung zur Vernissage rezenter Werke dieser zwei atypischen Künstlerinnen in meinem Briefkasten fand. Ich habe schon mehrmals einige ihrer Arbeiten im Rahmen größerer Kollektivausstellungen in der Kunstgalerie Schortgen gesehen, hatte doch noch keine Gelegenheit, sie eingehend und einzeln vorzustellen. Das ist zwar heute auch nicht hundertprozentig der Fall, dafür ist aber das gemeinsame Vorzeigen ihres Schaffens ein besonders gelungener Wurf. (1)
Ja, Schortgen ist mit der Einladung der Malerin Marlies Albrecht und der Tonplastikerin Gabriele Wanner zu einer gemeinsamen Ausstellung ein außerordentliches Gleichnis und Kontrast zugleich geglückt. Zwei verschiedene Augenpaare, zwei unterschiedliche Kunstarten, doch ein ähnlich kritischer, beizend-karikaturistischer, schonungsloser Blick auf den Menschen. Weit entfernt von der allgemein herrschenden Schönmacherei, nähern sie sich, jede auf ihre eigentümliche Art, doch nicht ohne eine gewisse Nachsicht, dem gewöhnlichen, nicht glänzenden, nicht besonderen, nicht bewundernswerten Sterblichen. 1956 in Ludwigsburg geboren, hat
Marlis Albrecht
(Künstlername : Malbrecht) von 1987 bis 1988 an der Freien Kunstschule Stuttgart studiert. Seit 1989 lebt und arbeitet sie freischaffend in Möglingen (Kreis Ludwigsburg). Anfänglich einem kaum figurativen Expressionismus frönend, der mehr das den Menschen Umgebende und das vom Menschen Ausgehende als das Menschliche selber sucht, findet sie bald (über Modiglianischen Umwegen ?) zu einer realistisch-akribisch-beizenden Personenschilderung. Immer mehr geht es Malbrecht im Wesentlichen darum, die Attitüden und die Charaktere von Frauen und Männern in allen möglichen Situationen zu erhaschen und auf ihre Bilder zu bringen. Ihre Hellsichtigkeit hat die Schärfe von Goya, Daumier, Ensor, ja Munch : nicht unbedingt schmeichelhaft für Adam und Evas Nachkommen.
Ein echter Künstler ist jedoch nie seinem gewesenen kreativen Ego der Nächste. Suchen, auskundschaften, experimentieren, hinzulernen, sich in Frage stellen, weiterentwickeln gehören zum Tagtäglichen. Malbrecht verfeinert die psychologische Analyse ; ihre Kritik entschärft sich ; Gegensätze sind weniger brutal ; der Pessimismus weicht, mit einem Hauch Klimt und einem Schuss Lebensfreude, einer dezenten proletarisch-kleinbürgerlichen Verträumtheit. Hierbei spielt die Albrechtsche Arbeitstechnik eine von der Künstlerin fundiert hervorgehobene Rolle.
Sie schreibt : „Wenn ich mit Wachs arbeite, bringe ich mit Pigmenten eingefärbtes warmes Wachs auf Holzplatten auf. Während des Arbeitsprozesses entstehen oft mehrere übereinanderliegende Schichten, die ich durch Kratzen, Schaben und Ritzen teilweise wieder freilege, so dass Darunterliegendes sichtbar wird. Zusätzlich zum warmen Wachs habe ich eine Kaltwachstempera entwickelt, die mir andere Möglichkeiten der Handhabung und Aussage des Wachses eröffnet. Es ist ein langsamer Entstehungsprozess, der einen »Malgrund mit Geschichte« hervorbringt, analog zu menschlichen Seelenschichten.“ Das Ergebnis ist brillant. So ähnlich, oder wenigstens vergleichbar, ist die Triebfeder der charakterlichen Beobachtung bei
Gabriele Wanner.
Doch sind ihr Vorgehen und ihre Ausdrucksweise ganz anders. „Das Hauptthema – so die Malerin – meines künstlerischen Werkes ist die skurril-ironische Seite menschlicher (und manchmal auch tierischer) Beziehungen“. Das Komische entschärft hier irgendwie das Dramatische, wandelt es in Drolliges um. Die sich auf das Physische in Hässlichkeit auswirkende Wichtigtuerei und geistige Armseligkeit der sich verspießbürgerlichenden Bauern und Proleten sind eher drollig als tragisch. Gabriele Wanners spaßige Tonskulpturen könnte man gewissermaßen als Anti-Hummelfiguren bezeichnen. (2)
Nach ihrem Studium der Psychologie in Tübingen, einer Fachlehrerausbildung und einem Lehrauftrag für »Plastisches Gestalten« am Staatlichen Fachseminar Reutlingen, übt Gabriele Wanner eine langjährige Tätigkeit als Kunsterzieherin bei Kindern und Jugendlichen aus. Sie etabliert sich bald als freischaffende Künstlerin in Cleebronn bei Stuttgart, gibt auch Plastizier- und Malkurse im eigenen Atelier und wirkt als aktives Mitglied im Künstlerbund Heilbronn.
Eigentlich ist es recht seltsam, dass trotz ihre langjährigen Kontakts mit Kindern und Jugendlichen, diese so gut wie nie in ihrer Figurenwelt erscheinen ; alte Menschen eigentlich auch nicht. Betrachtet sie die Ersten als diesseits, beziehungsweise die Zweiten als jenseits satirischer Kritik ? Vielleicht geht sie davon aus, dass nur Zwanzig- bis Sechzigjährige imstande sind, die Offenlegung ihres wahren Spiegelbildes hinter ihrer zur Schau getragenen Fassade zu vertragen. Fragen lassen sich leicht stellen und Theorien rasch aufbauen ; doch wie steht’s mit den Antworten ?
Na ja, als geborener Faulenzer überlasse ich das Ihnen, liebe Leser. Schließlich habe ich diese interessante Albrecht-Wannersche Ausstellung schon besucht. Jetzt sind Sie dran. Also viel Spaß und…
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1) Galerie Schortgen Artworks, 24, rue Beaumont, Luxemburg Stadt (parallel zur Großgasse). Ausstellung Marlis Albrecht & Gabriele Wanner Dienstag bis Samstag 10.30 - 12.30 und 13.30 - 18 Uhr, bis zum 11. November.
2) Wer erinnert sich nicht an die kleinen, putzigen, rundlichen, niedlichen, süßlichen, kitschigen, in den Zwischenkriegsjahren von Schwester Maria Innocentia Hummel kreierten kindhaften Figürchen, die heutzutage noch spärlich in Souvenir- und Kitschläden dahinvegetieren ?
Giulio-Enrico Pisani