»Bis an die Zähne bewaffnet«
In der EU wird über Finanzierung steigender Militäretats diskutiert. Bekannter Publizist fordert nukleare Bewaffnung der EU
Trotz bereits rasant steigender Militärausgaben dringen Politiker der EU und in einigen Mitgliedstaaten auf weitere Schritte zur Erhöhung der nationalen Militäretats in der EU. Der deutschen Regierung ist es gelungen, mit buchhalterischen Tricks das Militärbudget mit einem Schlag auf rund zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts anzuheben. Um die Mittel aufzubringen, könne man einfach zwei Feiertage streichen, regt der Direktor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) an.
In der EU wird auf Vorschlag der estnischen Ministerpräsidentin Kaja Kallas über einen Aufrüstungsfonds nach dem Vorbild des Covid-19-Wiederaufbaufonds diskutiert – mit einem Volumen in dreistelliger Milliarden-Euro-Höhe. In Berlin wird gleichzeitig die Forderung nach nuklearer Aufrüstung der EU laut.
Milliarden für die »Kriegstüchtigkeit«
Der offizielle deutsche Militärhaushalt wird im kommenden Jahr um rund 1,7 Milliarden Euro steigen und 51,8 Milliarden Euro erreichen. Rechnet man die 19,2 Milliarden Euro aus den Sonderschulden hinzu, die laut Auskunft des Kriegsministeriums im Jahr 2024 ausgegeben werden sollen, dann erreichen die deutschen Militärrausgaben rund zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Für die Zeit, wenn die Sonderschulden aufgebraucht sind, verlangt der sozialdemokratische Kriegsminister Boris Pistorius bereits heute eine beispiellose Erhöhung des deutschen Militäretats; dieser müsse dann, erklärte Pistorius am Mittwoch im Bundestag, um bis zu 23 Milliarden Euro pro Jahr aufgestockt werden.
Pistorius, der seit kurzem fordert, die Bundeswehr müsse »kriegstüchtig« sein, verwahrte sich im Parlament gegen Kritik, es solle lieber wie bisher von »Verteidigungsfähigkeit« gesprochen werden; er beharrte auf seiner Wortwahl. »Kriegstüchtigkeit« erklären ohnehin die neuen »Verteidigungspolitischen Richtlinien« zum offiziellen Ziel der deutschen Bundesregierung.
600 Milliarden Euro für Rüstung und Krieg
Gleichzeitig zum deutschen sind auch die Militäretats zahlreicher weiterer EU-Länder aufgestockt worden. So gaben die Mitgliedstaaten der Friedensnobelpreisträgerin Europäische Union im Jahr 2022 die Summe von 240 Milliarden Euro für ihre Streitkräfte aus, sechs Prozent mehr als im Jahr 2021. Sechs EU-Staaten erhöhten ihre Militäretats dabei um mehr als zehn Prozent, Schweden gar um mehr als 30 Prozent.
In diesem Jahr liegen die Militärausgaben der EU-Staaten laut Angaben von Ratspräsident Charles Michel schon bei 270 Milliarden Euro. Wie Michel am Donnerstag auf der Jahrestagung der »Europäischen Verteidigungsagentur« (EDA) mitteilte, lag der Betrag, der im vergangenen Jahr alleine für Rüstungsinvestitionen ausgegeben wurde, bei 60 Milliarden Euro. Das bedeute, »daß wir in den nächsten zehn Jahren mindestens 600 Milliarden Euro investieren können«, um Kriegsgerät zu entwickeln und zu produzieren, hielt Michel fest.
Mit 600 Milliarden Euro könne man »großartige Dinge tun«: »Das kann und sollte ein Wendepunkt sein.« Michel plädierte darüber hinaus dafür, es nicht bei dieser Summe zu belassen. Um »unsere technologische und industrielle Basis« auf dem Sektor der Rüstungsindustrie zu stärken, sprach sich Michel für die Einführung von »europäischen Verteidigungsbonds« aus.
EU-Aufrüstungsfonds
Michels Vorschlag knüpft an einen Vorstoß von Estlands Ministerpräsidentin Kaja Kallas an. Kallas hatte auf dem jüngsten EU-Gipfel dafür plädiert, eigens einen EU-Aufrüstungsfonds aufzulegen – und zwar nach dem Vorbild des Covid-19-Wiederaufbauprogramms »Next Generation EU«.
Der Vorstoß ist Teil einer umfassenden Militarisierungsoffensive; Kallas will durchsetzen, daß die Aufrüstung während der Amtszeit der nächsten EU-Kommission nach der EU-Wahl im Juni 2024 zu einer der »drei obersten Prioritäten der EU« aufgewertet wird.
Ein genaues Konzept für den Aufrüstungsfonds liegt noch nicht vor; auch wird bisher noch keine konkrete Summe dafür genannt. »Next Generation EU« belief sich auf 750 Milliarden Euro; über den Aufrüstungsfonds heißt es, es sei sicherlich »ein dreistelliger Milliardenbetrag nötig«.
Die deutsche Bundesregierung läßt erkennen, sie sei »nicht grundsätzlich« gegen das Vorhaben. Es müsse lediglich verhindert werden, daß einzelne EU-Staaten ihre Haushalte entlasteten, indem sie ihre Militärausgaben faktisch auf die EU-Ebene verschöben. Sollte es irgendwann gelingen, einheitliche EU-Streitkräfte zu etablieren, dann spreche ohnehin überhaupt nichts dagegen, sie aus gemeinsamen EU-Mitteln zu finanzieren, werden Kreise aus dem Berliner Kanzleramt zitiert.
Feiertage streichen
Ein neuer Vorschlag zur Aufstockung des deutschen Militärhaushalts kommt unterdessen aus der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Deren Direktor Guntram Wolff schrieb zu Wochenbeginn in einem Beitrag für das »Handelsblatt«, die Bundesrepublik werde »zwingend wesentlich mehr für ihre eigene Verteidigungsfähigkeit und die Unterstützung der Ukraine ausgeben müssen«. Die »damit einhergehende Erhöhung der Staatsausgaben« sei »strukturell, das heißt wahrscheinlich über Jahrzehnte, notwendig«.
Wolff geht von einem Betrag in Höhe von 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Ihm zufolge müssen darüber hinaus weitere 0,5 Prozent »für die grüne Transformation« eingeplant werden. Um »diese langfristig notwendigen zusätzlichen Belastungen von fast einem Prozentpunkt« des Bruttoinlandsprodukts stemmen zu können, könne man ganz einfach zwei Feiertage abschaffen.
Dänemark etwa habe dies schon getan und, um das Zwei-Prozent-Ziel der NATO zu erreichen, den »seit 1686 existierenden ... ‘Store Bededag‘« gestrichen. Dies sei ohnehin recht angebracht, da Deutschland laut Daten der OECD »bei der effektiv geleisteten Jahresarbeitszeit« im EU-Vergleich »eher im unteren Bereich« liege: »So arbeiten Deutsche mit 1.341 Arbeitsstunden pro Jahr 150 Stunden weniger als Franzosen und sogar 353 Stunden weniger als Italiener.«
»Gemeinsamer Koffer mit rotem Knopf«
Während die Debatte um die Finanzierung rasant steigender Militärhaushalte andauert, schlägt ein im Berliner Establishment einflußreicher Publizist eine nukleare Bewaffnung der EU vor. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler fordert in einem aktuellen Interview mit »spiegel.de« am 29.11.2023: »Europa muß atomare Fähigkeiten aufbauen«.
Zwar habe Britannien »Atom-U-Boote, Frankreich die Bombe«; doch könne man nicht sicher sein, daß sie sie einsetzen würden, um »Litauen oder Polen zu schützen«. Man sei bloß unangreifbar, wenn man »bis an die Zähne bewaffnet« sei, wird Münkler zitiert. Der Politikwissenschaftler fordert: »Wir brauchen einen gemeinsamen Koffer mit rotem Knopf, der zwischen großen EU-Ländern wandert.«