Entzerrung der Zerrbilder
Eine neue Studie zum Niedergang der DDR
Die Massenverdummung ist die Hauptaufgabe der DDR-Aufarbeitungsindustrie. Die Marxisten Ekkehard Lieberam und Roland Wötzel stellen der Verfälschung von Vergangenheit und Gegenwart eine abgewogene und faktenreiche Geschichtsbetrachtung gegenüber. Der besondere Reiz der Publikation liegt darin, daß die Autoren Funktionen in der DDR hatten – Lieberam als Professor an der Karl-Marx-Universität Leipzig, Wötzel als Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Leipzig. Sie schreiben als politische Menschen, die den Sozialismus der DDR mitgestalteten und versuchten, die Konterrevolution abzuwehren.
Ihre Studie vereint drei Texte, die im Abstand von jeweils zehn, zwanzig und dreißig Jahren nach der »Schluckvereinigung«veröffentlicht wurden – ein Erkenntnisprozeß, der nicht frei von Irrtümern und Fehleinschätzungen war. Sie betreffen insbesondere die Frage, ab wann noch eine Möglichkeit für die Erneuerung des europäischen Sozialismus bestanden hat. Aus Sicht der Autoren war eine solche »mit dem Abbruch der NÖS-Reformen 1971 in der DDR und der Kossyginschen Reformen in der Sowjetunion in den Jahren 1970 ff.« nicht mehr gegeben. Die Entwicklung der VR China ab 1978 blieb in der Politik der SED völlig unbeachtet.
Roland Wötzel war Leiter der Hauptabteilung ÖSS (Ökonomisches System des Sozialismus) in der Staatlichen Plankommission. Entsprechend kenntnisreich erläutert die Studie den Reformabbruch 1970/71, der in der DDR zu Vertrauenskrise, Systemkrise, Aufbruch und Konterrevolution führte. Die Konterrevolution wird als Weg zur neuen »Zweiheit« dargestellt, zur »politischen Kolonialisierung« Ostdeutschlands mit dem charakteristischen Merkmal der Fremdbestimmung.
Umfassende Würdigung erfährt, was in anderen Darstellungen wenig oder gar keine Beachtung findet: Mit dem Einigungsvertrag setzten sich die Herrschenden über das Verfassungsgebot des Artikels 146 hinweg, das die Geltungsdauer des Grundgesetzes exakt bis zur Vereinigung begrenzte. Der im Grundgesetz geforderte Volksentscheid über eine neue Verfassung wurde trickreich verhindert.
Die Autoren kommen zum Ergebnis, daß der europäische Sozialismus »infolge von politischen und strategischen Fehlorientierungen der führenden Parteien sukzessive in eine ausweglose geschichtliche Situation hineingetappt« ist. Seine Wirtschaftskraft stagnierte. Die Fehlentwicklungen im politischen System der DDR, in dessen Mittelpunkt die SED stand, werden gründlich analysiert. Das größte Versäumnis sehen die Autoren darin, daß die Arbeiterklasse der DDR 1989 weitgehend gelähmt war, »weil alleingelassen von der politischen Führung und selbst ungeübt, politisch zu kämpfen«.
Es gehört zu den Vorzügen des Buches, daß die Erfahrungen des Realsozialismus, die die marxistische Theorie bereichern, in sehr verdichteter Form dargelegt werden. Besonders zeichnet die Studie aus, daß das Handeln der DDR-Politiker im revolutionären Prozeß nicht unterschlagen wird. Sie hatten die Waffen in der Hand, ohne sie einzusetzen. Auch der am 9. Oktober 1989 eingeleitete Kurswechsel in Richtung Dialog und Erneuerung gehört dazu. Er kam zu spät, aber die Beschlüsse des 10. Plenums des ZK der SED und das dort verabschiedete Aktionsprogramm »Schritte zur Erneuerung« waren auf der Höhe der Zeit.
Nicht zufällig verstärkten die Kohl/Schäuble-Truppen in diesem Moment ihre annexionistischen Aktivitäten, begünstigt durch die unkontrollierte Grenzöffnung am 9. November 1989. Im letzten Quartal des Jahres 1989 kehrte die SED als noch bedeutsamer Akteur auf die politische Bühne der DDR zurück. Allerdings geriet sie dabei selbst in den Sog der Ereignisse.
Ekkehard Lieberam und Roland Wötzel gehen insgesamt davon aus, daß mit der Niederlage des europäischen Sozialismus ein »Epochenwechsel« eingeleitet wurde. Ich würde allerdings lieber beim von Lenin geprägten Epochen-Begriff bleiben und von einem »Etappenwechsel« sprechen. Es schlug die »Stunde der Restauration«.
Der neue geschichtliche Zeitabschnitt ist gekennzeichnet durch die deutliche Stärkung der Rolle des Finanzkapitals, die Rückkehr der Systemfrage und den Aufstieg der VR China, das Wachstum der Kriegsgefahr; eine außerordentlich geschwächte politisch organisierte und organisierende Arbeiterklasse. »Auf der Tagesordnung«, so die Autoren, »stehen vielfältige Abwehrkämpfe, aber vor allem ein langfristiger Kampf um andere gesellschaftliche Verhältnisse, um Gegenmacht.« Ein der Wahrheit verpflichtetes Buch.
Ekkehard Lieberam,
Roland Wötzel
Entzerrung der Zerrbilder
Texte zum Epochenwechsel
Verlag am Park Berlin 2021
188 Seiten, 12 Euro (D)
ISBN 978-3-947094-89-9