Leitartikel25. Februar 2022

Augenwischerei aus Belgien

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Viel wird aktuell über das neue Vorhaben in Belgien diskutiert, eine Vier-Tage-Woche einführen zu wollen. Auf den ersten Blick eine tolle Sache und den gewerkschaftlichen Forderungen folgend, die Wochen- und Lebensarbeitszeit endlich der seit Jahrzehnten massiv gewachsenen Produktivität anzupassen und den Beschäftigten durch Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich endlich ein gerechteres Stück vom geschaffenen Wohlstandskuchen zukommen zu lassen.

Doch ist das belgische Projekt tatsächlich ein Grund zum Feiern? Gewerkschaften wurden nicht in die Ausarbeitung des Vorhabens eingeweiht. Dazu kommt, daß es keineswegs um eine wirkliche sozial gerechte Arbeitszeitverkürzung geht, sondern vielmehr um eine Umschichtung, denn es sollen an den verbleibenden Arbeitstagen dafür bis zu 10 Stunden täglich gearbeitet werden. Dazu kommt, daß eine Vier-Tage-Woche nach diesem Modell nicht bedeutet, daß man als Lohnabhängiger ab Freitagmorgen eigenen Lebensinhalten folgen darf, da dies nicht in deren Planungshoheit liegend wird. Ein solches Projekt ist also keineswegs fortschrittlich, haben doch nicht wenige Wissenschaftler immer wieder belegen können, daß ein Mensch schon bei 6-8 Stunden Lohnarbeit am Tag irgendwann an Konzentration verliert, ermüdet und deutlich an Produktivität einbüßt. Mit verheerenden Folgen für die Gesundheitssysteme und die Gesellschaft. Denken wir über das bestehende System nach, klingt es fast schon surreal, während eines Lebens, das sich so vielseitig gestalten läßt, an den meisten Tagen immer und immer wieder dieselbe Tätigkeit auszuführen.

Der alles überlagernde Lohnerwerbszwang hindert viele Menschen an der individuellen Entwicklung. Dazu kommt, daß lange Arbeitszeiten gesundheitliche und geistige Schäden anrichten, deren Behandlung von der Allgemeinheit getragen werden muß, während die durch Mehrarbeit entstandenen Extra-Profite zum größten Teil in die Taschen der Unternehmer wandern. In der Hoffnung, daß sie weitere solcher Arbeitsplätze schaffen, erlässt man ihnen dann auch immer weiter die soziale Mitverantwortung. Ein Hamsterrad: Für den Einzelnen bleibt, so sehr er auch strampelt, am Ende immer dasselbe übrig.

Der technische Fortschritt der vergangenen Jahrzehnte hat die Produktivität enorm gesteigert, jedoch für die Massen nicht zu einer Entlastung, sondern zu einer Arbeitsverdichtung geführt, an deren Resultaten sie kaum teilhaben. Im Gegenteil wird stetig Lohnmoderation gefordert. Aber ist Arbeiten um jeden Preis noch zeitgemäß? Weder herrschende Politik, noch Wirtschaft sind bereit dazu, an solche Diskussionen zu denken. Manche Unternehmer lassen sich zur »Schirmherrschaft« von »Grundeinkommen«-Modellen hinreißen, weil die bisher vorgestellten Versionen dieser an sich guten Idee alle eines mit sich brächten: Die völlige Freistellung der Unternehmer von sozialer Verantwortung und gesellschaftlichen Verpflichtungen.

Dabei haben Modellansätze von tatsächlich reduzierten und nicht nur umgeschichteten Wochenstunden in manchen Ländern sehr gute Ergebnisse erzielt. Die Gesundheit und die Motivation der Beschäftigten dort entwickelten sich positiv. Zeit für das eigene Leben wird freigeschaufelt. Vereine und soziale Kreise profitieren eindeutig davon. Und nicht zuletzt der insbesondere hierzulande arg an den Nerven zehrende Straßenverkehr.

Soziale Fortschritte fallen nicht vom Himmel. Neben gewerkschaftlichem Druck müssen auch politisch Weichen dazu gestellt werden. Erst dann können längst überfällige und ernst gemeinte Wochen- und Lebensarbeitszeitverkürzungen wieder auf die Agenda.