Der Kapitalist, der seine Klasse verriet
Der 1820 im damals preußischen Barmen im Westen Deutschlands geborene und 1895 in London gestorbene Friedrich Engels war vieles. Er war der Lebensgefährte der im englischen Manchester geborenen irischen Baumwollspinnerin Mary Burns, Lebensfreund, Koautor und Förderer von Karl Marx, Revolutionär in den bewaffneten Kämpfen des Jahres 1848, Mitarbeiter der 1864 in London gegründeten Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) und der maßgebliche Berater (»General«) der sich Ende des 19. Jahrhunderts herausbildenden sozialistischen Arbeiterbewegung. »Darüber hinaus«, heißt es in der deutschsprachigen Wikipedia schon im dritten Satz, »war er ein erfolgreicher Unternehmer in der Textilindustrie«.
Obwohl in der sozialistischen Arbeiterbewegung, der nach 1917 aus ihr hervorgegangenen Sowjetunion und in den nach dem Sieg gegen den Faschismus 1945 entstandenen volksdemokratischen Ländern Europas nie ein Hehl aus dieser Tatsache gemacht wurde, tun bürgerliche Presseorgane in regelmäßigen Abständen so, als würden sie damit eine Sensation aufdecken. So ist derzeit in der Rubrik »Geschichte« auf spiegel.de unter dem Titel »Der Kapitalist, der Marxist sein wollte« zu lesen: »Gemeinsam mit Karl Marx propagierte er den Sozialismus, dabei lebte Friedrich Engels das Leben eines reichen Fabrikanten: Seine Familie beutete Arbeiter aus, auch Engels wurde durch das Elend der anderen reich.«
Doch kann man aus der unbestrittenen Tatsache, daß Engels auch ein erfolgreicher Kapitalist war, schlußfolgern, daß er deshalb nicht befugt oder in der Lage gewesen sei, bereits 1844, ganz zu Beginn seiner Zusammenarbeit mit Marx, »Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie« vorzulegen und schon im Jahr darauf Schlüsse aus der »Lage der arbeitenden Klasse in England« zu ziehen?
Aus dem in enger Zusammenarbeit mit Marx ausgearbeiteten Historischen Materialismus ist dann das gemeinsame »Manifest der Kommunistischen Partei« von 1847/48 hervorgegangen – nach der Bibel bis heute das am häufigsten gedruckte und gelesene Buch unserer Zeit.
Daß sich die Volksrepublik China bis heute auf Engels beruft und in ihm einen ihrer geistigen Staatsgründer sieht, hängt erklärtermaßen auch mit seiner Kommunikation mit Marx bei der Entstehung des ersten Bandes des »Kapital« und, nach Marx‘ Tod, der gewissenhaften Edition der Bände zwei und drei zusammen. Nicht zu vergessen seine historischen Schriften, die Spätwerke über die »Dialektik der Natur« und die »Entstehung des Privateigentums, der Familie und des Staates« sowie sein Briefwechsel mit den Repräsentanten der sich ab den 1870er Jahren in sozialistischen Parteien, Gewerkschaften und Genossenschaften formierenden Arbeiterbewegung.
Schon im »Manifest« hatte Engels mit Marx angedeutet, wie Intellektuelle in revolutionären Zeiten ihre Klasse verraten: »In Zeiten (…), wo der Klassenkampf sich der Entscheidung nähert, nimmt der Auflösungsprozeß innerhalb der herrschenden Klasse, innerhalb der ganzen alten Gesellschaft, einen so heftigen, so grellen Charakter an, daß ein kleiner Teil der herrschenden Klasse sich von ihr lossagt und sich der revolutionären Klasse anschließt, der Klasse, welche die Zukunft in ihren Händen trägt. Wie daher früher ein Teil des Adels zur Bourgeoisie überging, so geht jetzt ein Teil der Bourgeoisie zum Proletariat über, und namentlich ein Teil der bourgeoisen Ideologen, welche zum theoretischen Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung sich hinaufgearbeitet haben.«