75 Jahre UNO: In Syrien kein Grund zum Feiern
Weltweite Konflikte und deren Folgen spielen bei UNO-Generaldebatte keine Rolle. »Ihr Interesse ist Krieg und nicht Frieden«, sagt der Großmufti von Syrien
Die jährliche Vollversammlung der UNO bot 75 Jahre lang Politikern und Beratern ihrer Mitgliedstaaten Gelegenheit, in den vielen Nebenräumen direkt und persönlich, bilateral oder in Gruppen über Konflikte, Krisen, Kriege, über Vereinbarungen und Strategien zu diskutieren.
In diesem Jahr stehen nicht die drängenden, ungelösten Krisen und Kriege in aller Welt und die Spannungen zwischen Groß- und Regionalmächten auf der Tagesordnung. Es geht um das Coronavirus und den Machtkampf zwischen den USA und China. USA-Präsident Donald Trump teilte in Richtung Peking, Moskau und Teheran aus, dabei ist es der sich selbst als »Weltmacht Nummer eins« wahrnehmende Staat, der seit dem 11. September 2001 direkt und indirekt für Millionen von Flüchtlingen und Inlandsvertriebenen in acht der blutigsten Kriege verantwortlich ist.
Eine am 21. September veröffentlichte Studie des US-amerikanischen Watson Instituts für internationale und öffentliche Angelegenheiten an der Brown University kommt zu dem Ergebnis, daß die sogenannten »Antiterrorkriege« der USA weltweit nach verhaltenen Schätzungen 37 Millionen Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat gezwungen haben. Die tatsächliche Zahl könnte bis zu 59 Millionen betragen, heißt es in der Studie »Creating Refugees« (Flüchtlinge schaffen, Vertreibung durch USA-Kriege nach dem 11. September 2001) des Instituts – und damit mehr als jeder andere Krieg oder jede Katastrophe seit dem Jahr 1900, den Zweiten Weltkrieg ausgenommen.
Der Nahe Osten, wo es seit 1945 die größte Zahl von Flüchtlingen gibt, trägt die schwerste Last. 9,2 Millionen zur Flucht genötigte Menschen im Irak, 7,1 Millionen syrische Inlandsvertriebene und Flüchtlinge verzeichnet die Studie, die im Rahmen von Untersuchungen über die Kosten des Krieges seit 2001 erstellt wurde. Angesichts dieser hohen Zahlen stellen die Autoren und Autorinnen die Frage: »Wer trägt die Verantwortung für die Wiedergutmachung des Schadens, der den Vertriebenen zugefügt wurde?« Dieser wichtige Punkt spielt bei der diesjährigen UNO-Vollversammlung indes keine Rolle. Die Menschen in Syrien, in den palästinensischen Flüchtlingslagern, im Irak oder im Libanon und in den besetzten palästinensischen Gebieten stehen im Abseits.
Syrien und der Konflikt um das Land sind seit Beginn des Krieges 2011 in vielen UNO-Gremien präsent. Mal geht es um die Lage der Menschenrechte, mal geht es um angeblich noch vorhandene Chemiewaffen, die Syrien bereits 2012 an die Organisation zum Schutz vor Chemiewaffen (OPCW) zur Vernichtung übergeben hatte. 2016 erhielt Damaskus die Bestätigung, alle registrierten Chemiewaffen vernichtet zu haben, dennoch hält sich hartnäckig das Gerücht, das Land habe weitere solche Waffen versteckt oder produziere sogar neue. Beweise für diese Anschuldigungen, die meist von »namentlich nicht genannten Geheimdienstquellen« stammen, gibt es nicht. Doch interessierte Kreise in der UNO bringen das Thema immer wieder auf die Tagesordnung.
Dutzende Hilfsorganisationen der UNO bringen seit Beginn des Krieges vor zehn Jahren Hilfspakete zu Menschen, die alles verloren haben. Weil sie – wie das humanitäre Völkerrecht es vorsieht – von Damaskus aus und mit Zustimmung der syrischen Regierung operieren, wirft man ihnen Korruption vor und daß sie einen »Diktator« unterstützten, »der sein eigenes Volk umbringt«.
Der UNO-Sicherheitsrat beschäftigt sich turnusmäßig einmal im Monat mit der humanitären und politischen Lage in Syrien. Zu ersterer referiert meist Mark Lowcock, der Generalsekretär von OCHA, der UNO-Organisation für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten und Nothilfe. Nach der öffentlichen Sitzung, die über den Fernsehkanal der UNO im Internet verfolgt werden kann, werden die Monitore für die Öffentlichkeit ausgeschaltet und es geht »hinter verschlossenen Türen« weiter.
Für die politische Lage ergreift der Sondergesandte der UNO für Syrien, Geir Pedersen, das Wort. Er ist der dritte UNO-Diplomat in diesem Amt. Unter dem Dach der UNO in Genf soll er Vertreter der syrischen Regierung und von der UNO ausgewählte Vertreter von Oppositionsgruppen zusammenbringen. Die Treffen basieren auf der Resolution des UNO-Sicherheitsrats 2254 aus dem Jahr 2015. Deren Vorläufer war 2012 das Genfer Abkommen, das die damalige USA-Außenministerin Hillary Clinton unterschrieb, um es unmittelbar danach an die Forderung zu knüpfen, daß erst der syrische Präsident Baschar Al-Assad abtreten müsse. Verhandlungen kommen nicht voran, dem militärischen ist ein Wirtschaftskrieg gefolgt, Sanktionen der EU und der USA bringen den Menschen Armut und Hunger, wie sie es nie gekannt haben.
Keines der internationalen Gremien, in denen über Syrien gesprochen werde, habe wirkliches Interesse daran, daß der Konflikt gelöst und der Krieg beendet werde, erklärte der Großmufti von Syrien, Ahmed Badreddin Hassoun, vergangenen Donnerstag im Gespräch mit der Zeitung in Damaskus: »Nicht die Arabische Liga, nicht der UNO-Sicherheitsrat«. Selbst wenn einige der Mitgliedstaaten der UNO eine Lösung für Syrien erreichen wollten, müßten sie sich den Interessen des militärisch-industriellen Komplexes beugen, der von europäischen Ländern, von den USA, Israel und den Golfstaaten kontrolliert werde. »Ihr Interesse ist Krieg und nicht Frieden«, so Hassoun. »Alle Menschen hier in der Region bezahlen dafür einen hohen Preis.«
Karin Leukefeld, Damaskus
Syrische Flüchtlinge am für sie gesperrten Grenzübergang Pazarkule zwischen dem türkischen Edirne und dem EU-Staat Griechenland (5.3.2020) (Foto: Bulent Kilic/AFP)
USA und EU nehmen syrisches Volk als Geisel
Die USA- und EU-Sanktionen gegen Syrien seien »smart« und träfen nur die Regierung, Armee und Geschäftsleute, die Präsident Baschar Al-Assad und seine Familie »bei der Unterdrückung der Bevölkerung unterstützten«, heißt es im deutschen Außenministerium. Der notleidenden Bevölkerung werde mit Hilfslieferungen der UNO geholfen, das werde jedoch von der Regierung und ihrem Verbündeten Rußland be- oder auch verhindert. Diese offizielle Linie wird regelmäßig auch in EU-Gremien und im UNO-Sicherheitsrat durch die dortigen deutschen Diplomaten vorgetragen.
In Syrien wird man eines besseren belehrt. »Wenn sie die Regierung bestrafen wollen, sollen sie das tun«, sagte zum Beispiel ein Pistazienhändler in Morek, einem kleinen Ort nördlich von Hama, vergangene Woche im Gespräch mit der Zeitung. Durch den Krieg und wildes Abholzen der wertvollen Pistazienbäume habe man ungefähr die Hälfte der Bestände verloren. Maschinen und Werkzeug seien gestohlen worden, gutausgebildete Arbeiter seien bei der Armee, kämpften auf der anderen Seite oder seien über die Türkei nach Europa ausgewandert.
»Für uns bedeuten die Sanktionen, daß wir keine Ersatzteile für unsere Maschinen kaufen können, keinen oder zu wenig Dünger und andere Stoffe erhalten, die wir zur Pflege unserer Bäume brauchen. Dann können wir offiziell nicht exportieren und weil die USA-Armee unsere Ölfelder besetzt hat, können wir nicht einmal unsere eigenen Bodenschätze nutzen.«
Dennoch gelangen die meisten der syrischen Pistazien auf verschlungenen Wegen nach Europa: »Man zwingt uns, kriminell zu handeln«. Die diesjährige Ernte und deren Verkauf seien enorm wichtig: »Wir brauchen das Geld, um für das nächste Jahr zu investieren.« Vor allem müßten neue Bäume gepflanzt werden, um den Verlust durch die vergangenen Kriegsjahre zu ersetzen. In diesem Jahr wurden nach Angaben des syrischen Landwirtschaftsministeriums bisher mehr als 500 Tonnen Pistazien nach Kanada und in die EU exportiert.
(kl)