Leitartikel08. September 2021

Muskelspiele in Brüssel

von

Ursula von der Leyen, Chefin der Kommission der Europäischen Union, hat offensichtlich immer größere Probleme, den Laden zusammenzuhalten. Das liegt nicht nur daran, daß sie demnächst nicht mehr den Rückhalt der Eisernen Kanzlerin aus Berlin spüren wird, denn die hat nach 30 Jahren Politzirkus in Berlin, Bonn und Berlin genug und zieht sich mit bisher unbekanntem Ziel zurück. Als Problem wird – zumindest aus heutiger Sicht – hinzukommen, daß womöglich nach den Wahlen in zweieinhalb Wochen die Unions-Christen nicht mehr die erste Geige in der deutschen Politik spielen werden. Zwar wird sich damit keine grundsätzliche Änderung in der Innen- und Außenpolitik ergeben, aber die Absprachen werden sich etwas weniger konfliktfrei gestalten.

Und dann der ganze Ärger mit dem verlorenen Krieg in Afghanistan. Dabei hatten sich die Strategen in Brüssel und in den umliegenden Hauptstädten das alles so schön vorgestellt. Unter dem Deckmantel des angeblichen Kampfes um Menschenrechte, Frauenrechte, Mädchenrechte auf Schulbildung, um das Recht auf Brunnenbohren und auf die Übertragung all der segenbringenden »Werte des Westens« wollte man sich am Hindukusch festsetzen, militärstrategisch bedeutsame Punkte in der Nähe der potentiellen nächsten Kriegsgegner Rußland und China besetzen, Transportwege kontrollieren, Bodenschätze ausbeuten und willfährige Politiker nach der Pfeife des Westens tanzen lassen.

Doch dann haben die Taliban die angerichtete Suppe gründlich versalzen. Mit dem kampflosen Einzug der bärtigen Gesellen in Kabul platzte die bunte Seifenblase, und nachdem die zu »Widerstandskämpfern« hochstilisierten Milizen der Kriegsherren in der 34. und letzten Provinz am Wochenende auch die Waffen strecken mußten, ist jede Hoffnung auf einen neuen Bürgerkrieg und ein dadurch »notwendig« werdendes neues Eingreifen auch erst einmal dahin. Zusätzlich hat man sich noch ein neues Flüchtlingsproblem aufgeladen, nachdem man schon seit Jahren mit dem bisherigen nicht zurande kommt.

Und was ist die Lehre aus dem Debakel? Die naheliegendste wäre natürlich, in Zukunft auf Kriege zu verzichten, Spannungen aller Art abzubauen und bestehende Krisen zu entschärfen. Aber das widerspräche dem Wesen des Kapitalismus zutiefst, denn mit solchen Dummheiten lassen sich keine richtigen Profite machen.

Also übt man sich in Brüssel in Muskelspielen und macht sich Gedanken darüber, wie die Friedensnobelpreisträgerin Europäische Union in Zukunft eigene Kriege anzetteln und führen kann, möglichst ohne zuvor die USA oder die NATO um Erlaubnis zu fragen. Eine eigene »Eingreiftruppe« muß her, und sie soll einsetzbar sein, ohne erst eine lästige Befragung aller Regierungen der Mitgliedstaaten abhalten zu müssen.

Mit einigen dieser Regierungen gibt es ohnehin wachsenden Ärger. Die in Warschau und Budapest haben zunehmend eigene Vorstellungen über »Werte« und »Rechtsstaat«, und die in Den Haag und in Sofia existieren nur auf dem Papier, die Suche nach einer richtigen Regierung zieht sich da wie dort lange hin. Andernorts wie zum Beispiel in Bukarest weiß man nie, ob der Minister, mit dem man am Morgen telefoniert, am Abend noch im Amt ist. Da bildet man lieber »Koalitionen der Willigen«, um nicht immer wieder nachfragen zu müssen…

Frau von der Leyen ist wirklich nicht zu beneiden. Denn in ihrer Umgebung gibt es niemanden, der genügend Mumm hätte, die einfachste Lösung für die EU ins Gespräch zu bringen: die Auflösung.