Luxemburg21. Oktober 2023

Interview der »Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek« mit der Leitung des SEW/OGBL

»Attraktiver wird die Berufsausbildung mit einer Gesetzesreform zu sektoriellen Kollektivverträgen, gerade im Handwerk!«

von Alain Herman

Die Leitung der Bildungsgewerkschaft SEW/OGBL im Gespräch mit der »Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek« über ihre Erwartungen an die neue CSV-DP-Regierung.

Die Koalitionsverhandlungen schreiten recht zügig voran und es sieht definitiv ach einer rechts(neo)liberalen Regierung aus. Deshalb eine etwas direkte Frage vorweg: Wünscht sich das SEW/OGBL einen personellen Wechsel an der Spitze des Bildungsministeriums angesichts der von Claude Meisch in den letzten Jahren gepflegten Taktik des Ignorierens gegenüber den Anfragen des SEW? Könnte ein von der CSV geleitetes MENJE einen bildungspolitischen Umschwung herbeiführen?

Vera Dockendorf (Sprecherin des Comité Secondaire): Wenn die DP den Ministerposten behält, wissen wir im Grunde, wie es weitergehen wird. Man muss allerdings betonen, dass die Zusammenarbeit mit den Beamten des Ministeriums vor allem in den letzten zwei Jahren gut verlaufen ist und wir in puncto Mitgliederbetreuung fast immer auf offene Ohren stießen. In verschiedenen Punkten konnten wir auch einen Durchbruch erreichen, wie z.B. bei den Promotionskriterien für Lehrkräfte mit unterbrochener Vollzeit. Was pädagogische Anliegen des SEW/OGBL angeht, so stießen wir jedoch zumeist auf wenig Dialogbereitschaft. Der Minister selbst glänzte während seiner Amtszeit zumeist durch Abwesenheit und Beratungsresistenz: Die allermeisten Treffen zwischen dem SEW/OGBL und dem Ministerium fanden in Abwesenheit des Ministers statt. Dies mussten auch andere Gewerkschaften feststellen. Mit Martine Hansen würde der Ministerposten von einer Person übernommen werden, die – im Gegensatz zu Noch-Minister Meisch – den Sektor kennt, da sie selbst unterrichtete und zeitweilig Direktorin der Ackerbauschule war. Auf der Oppositionsbank fiel sie uns vor allem durch viele und pertinente parlamentarische Anfragen zur Bildungspolitik positiv auf. Auch während Unterredungen des SEW mit der CSV fiel immer wieder auf, wie gut informiert sie über den Sektor war. Es besteht also bei uns auf jeden Fall die Hoffnung auf einen besseren Sozialdialog und besser durchdachte und geplante Reformen. Natürlich könnte sich auch das Gegenteil herausstellen, das müssen wir abwarten.

Im CSV-Wahlprogramm steht, dass die Erweiterung der »Palette« an internationalen Bildungsangeboten und Europaschulen nicht mehr zu den Prioritäten gehören soll. Das SEW/OGBL spricht in diesem Kontext von einer Zersplitterung der Bildungslandschaft sowie einer Gefahr für die soziale Kohäsion und Integration. Besteht eine berechtigte Hoffnung, dass die neue Regierung das Ruder herumreißen wird? Wenn ja, worauf muss hierbei geachtet werden?

Vera Dockendorf und Michel Reuter (Sprecher des Comité Secondaire): Die CSV spricht sich in ihrem Wahlprogramm für die »Stärkung der öffentlichen Schulen« aus und will »weniger auf einen fortgesetzten Ausbau der Europaschulen« bauen. Was in den Europaschulen gut funktioniert, und das ist unseres Erachtens vor allem die flexiblere und differenzierte Herangehensweise an den Sprachenunterricht, möchte die CSV auch auf die Regelschule ausweiten. Dies würde für uns durchaus Sinn machen – eine Flexibilisierung des Sprachenunterrichts ist ja auch eine Forderung des SEW/OGBL.

Auf was man bei den Europaschulen achten muss? Man sollte erstens differenzieren, zwischen einer Schülerschaft, die z.B. aufgrund beruflicher Mobilität der Eltern nur einige Jahre in Luxemburg bleiben wird, und einer Schülerschaft, die voraussichtlich bleiben wird und in die Luxemburger Berufswelt integriert werden will. Für erstere Gruppe sind die öffentlichen Europaschulen eine sinnvolle Alternative zu den teuren internationalen Privatschulen und eine Standortfrage für Luxemburg. Für zweitere Gruppe sind die Europaschulen aufgrund der unreglementierten Sprachauswahl zumeist keine sinnvolle Alternative, vor allem nicht von Grundschule an. Die Europaschulen sind in puncto Sprachauswahl und -gewichtung nicht an die Spezifitäten unseres Landes angepasst. Da wir aber davon ausgehen, dass die Europaschulen auch für die CSV zu einem mittlerweile festen Bestandteil der Bildungslandschaft gehören, müssen diese Schulen an die hiesigen Gegebenheiten angepasst werden. Konkret bedeutet das, dass bei der Sprachauswahl die drei administrativen Sprachen Priorität erhalten müssen. Nur so können Übergänge ins nationale System geschaffen werden, wenn sich herausstellt, dass die Schülerinnen und Schüler den doch sehr akademisch ausgerichteten Kriterien der Europaschulen nicht gerecht werden können.

Die Handwerks- und Berufsausbildung blieb auch unter Claude Meisch ein Stiefkind der Bildungspolitik. Allenthalben wird von der „Aufwertung der beruflichen Ausbildung“ gesprochen. Welche Anreize muss es wirklich geben, damit in Zukunft weitaus mehr Schüler sich einem Handwerk zuwenden?

Michel Reuter: Man muss den Schülern klare berufliche Perspektiven aufzeichnen als Gegenpol zur akademischen Ausbildung.

Als SEW haben wir eine Infobroschüre über Berufsprofile aufgestellt, die den Arbeitsalltag sowie Verdienstmöglichkeiten vorstellt und auch je nach Handwerk oder Ausbildung aufzeigt, dass es durchaus finanziell interessant sein kann, ein Handwerk zu erlernen. Im Allgemeinen bleibt aber in vielen handwerklichen Branchen noch viel Luft nach oben in puncto Kollektivverträge. Eine Gesetzesreform zu sektoriellen Kollektivverträgen wäre also dringend notwendig.

Es geht aber auch um eine reelle systemische Aufwertung der Berufsausbildung. Dazu gehört für uns neben einer Verlängerung des unteren Zyklus der Sekundarschule von drei auf vier Jahre auch eine nominelle Aufwertung des DAPs, der »Première professionnelle« heißen soll. Nach dem Abschluss dieser »Première professionnelle« hätten die Schülerinnen und Schüler Zugang zum Meister­brief, der auf das Niveau 6 des nationalen Qualifikationsrahmen gehoben werden würde.

Nun handelt es sich bei den besprochenen Punkten um bildungspolitische Baustellen, die nur durch präzise und langfristig geplante Reformen umgesetzt werden können. Wo besteht nach Meinung des SEW/OGBL umgehender Handlungsbedarf bzw. die Möglichkeit, sofort etwas zum Besseren zu wenden, sowohl auf pädagogischem Niveau als auch auf der Ebene des Lehrpersonals?

Joëlle Damé (Präsidentin): Schnell und einfach umsetzbare Lösungen wären sicherlich die Abschaffung der Ausnahme im Arbeitsrecht in puncto unbegrenzte Anzahl von aneinandergereihten befristeten Verträgen für Lehrkräfte. Wieso sollen im Bildungsbereich andere Regeln gelten als in jedem anderen Sektor?

Eine Erhöhung des »Contingents« wäre schnell umsetzbar. Außerdem sollte man sofort Schulen, die nicht im Speckgürtel liegen, gezielt unterstützen und ihnen zusätzliche Ressourcen zur Verfügung stellen. Im Bereich Inklusion muss der prozedurale Aufwand zeitnah reduziert werden. Auch muss der komplette Sprachenunterricht überdacht und ein kohärentes Konzept von Cycle 1 bis 1ère ausgearbeitet werden, das eine Gewichtung der Sprachen zulässt.

Schnell umzusetzen wären auch transparentere Promotionskriterien und verbindlich externe Differenzierung im unteren Zyklus der Sekundarunterrichts (7ème bis 5ème).

Gratis Arbeitsmaterial für Schülerinnen und Schüler in der Berufsausbildung sowie kostenlose Kopien für Sekundarschülerinnen und -schülersollten ebenfalls einfach umsetzbar sein.

Es bleibt abzuwarten, ob der politische Wille dazu vorhanden ist.

Kann man mit konkreten gewerkschaftlichen Schritten rechnen, sollte es keine Bewegung in den Dossiers geben, die für das SEW/OGBL von besonderer Bedeutung sind?

Vera Dockendorf und Michel Reuter: Davon kann man ausgehen.

Das Interview führte
Alain Herman