Ausland08. Juni 2022

Das Ende der Kriegsmüdigkeit

Zustimmung zu Aufrüstung ist bei Grünen-Wählern massiv gestiegen. Anhänger der Partei sind besonders wohlhabend, werden von Rückwirkungen von Sanktionen weniger getroffen

von German Foreign Policy

Mit bellizistischen Forderungen wie derjenigen nach einem »Ende der Kriegsmüdigkeit« kann die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock bei der Wählerschaft der Grünen auf überdurchschnittliche Zustimmung hoffen. Hintergrund ist die Entwicklung der Partei, deren Gründungsgeneration längst aus den sozialen Bewegungen der 1980er Jahre in gut bezahlte und abgesicherte Berufspositionen aufgerückt ist.

Der Anteil der Beamten sowie der im öffentlichen Dienst Tätigen ist bei den Grünen höher, der Anteil schlecht bezahlter Jobber niedriger als in jeder anderen Partei. Von den negativen Auswirkungen der Sanktionen auf Versorgung und Wirtschaft im eigenen Land sind die Grünen daher individuell am wenigsten betroffen.

Abschreckung statt Abrüstung

Wie aktuelle Umfragen bestätigen, haben nicht nur Parteifunktionäre und Abgeordnete, sondern auch die Wählerschaft von Bündnis 90/Die Grünen die Abkehr von den einstigen friedensbewegten Positionen der Partei inzwischen umfassend vollzogen. Waren 1989 »nur sechs Prozent der westdeutschen Anhänger der Grünen überzeugt«, daß militärische »Abschreckung die beste Verteidigung« sei, so seien das heute 62 Prozent, heißt es in einer Untersuchung aus dem Allensbacher Institut für Demoskopie. Umgekehrt sei »die Hoffnung, daß einseitige Vorleistungen bei der Abrüstung Erfolg« versprächen, »von 77 auf 35 Prozent geschrumpft«.

Im Hinblick auf den Ukraine-Krieg seien im Durchschnitt 57 Prozent der deutschen Bevölkerung der Ansicht, »daß man bereit sein muß, sein Land und die Freiheit mit allen Mitteln zu verteidigen«; dies werde »am entschiedensten von den Anhängern der Grünen« vertreten. Befragt, ob der Westen der Ukraine schwere Waffen liefern solle, antworteten in einer anderen Umfrage 67 Prozent aller Grünen-Anhänger mit »Ja«. Lediglich bei FDP-Wählern lag die Zustimmung mit 70 Prozent leicht darüber; selbst die Wähler von CDU und CSU hielten sich mit einer Befürwortungsquote von 53 Prozent viel stärker zurück.

»Realpolitik in ihrer brutalsten Ausprägung«

Demnach entsprechen besonders aggressive Äußerungen grüner Regierungspolitiker in hohem Maß der Stimmung in der grünen Wählerschaft. »Wir müssen auch schwere Waffen liefern«, hatte am 6. April der Grünen-Bundestagsabgeordnete Anton Hofreiter gefordert; das sei »Realpolitik in ihrer brutalsten Ausprägung« und mit Blick auf die Frage, ob Deutschland von Rußland als Kriegspartei eingestuft werde, »riskant«, aber dennoch notwendig. Kurz darauf erklärte Landwirtschaftsminister Cem Özdemir von den Grünen, es sei »wichtig, daß der Westen die Ukraine mit weiteren«, vor allem »wirkungsvolleren Waffen« unterstütze: »Da sollte sich Deutschland nicht ausnehmen«.

Özdemir behauptete, die Waffenlieferungen seien nicht zuletzt nötig, um eine weltweite Hungerkatastrophe zu verhindern – mit Hilfe militärischer Erfolge gegen Rußland. Auch Wirtschaftsminister Robert Habeck schloß sich der Forderung an; »es müssen mehr Waffen kommen«, verlangte der Minister Mitte April: »Natürlich bedeutet eine Brutalisierung des Krieges auch, daß man in Quantität und Qualität der Waffenlieferungen zulegen muß.« Denn die ukrainischen Streitkräfte kämpften gegen Rußland »auch für uns«.

»Ein Moment der Fatigue«

Nicht zuletzt Außenministerin Annalena Baerbock prescht regelmäßig mit der Forderung nach härtestmöglichen Sanktionen gegen Rußland vor – und übertrifft dabei immer wieder Politiker der CDU/CSU, die für scharfe Töne gegenüber Moskau bekannt sind. Nur wenige Tage nach Kriegsbeginn hatte Baerbock geäußert, die Sanktionen des Westens sollten »Rußland ruinieren«. Mitte Mai hatte sie hinzugefügt, Deutschland werde »nie wieder« Erdgas aus Rußland importieren. Dies hatte den als »Atlantiker« bekannten CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz zu vorsichtiger Kritik veranlaßt; die Ankündigung der Außenministerin, erklärte Merz, »teile ich in dieser apodiktischen Form nicht«.

In der vergangenen Woche hatte Baerbock nun mit einer Warnung vor »Kriegsmüdigkeit« für erhebliches Aufsehen gesorgt: »Wir haben einen Moment der Fatigue erreicht«, behauptete die Grünen-Politikerin am 25. Mai. Die Ursache dafür sei nicht zuletzt, daß die Energie- und Lebensmittelpreise stark gestiegen seien, was zu wachsendem Unmut in der Bevölkerung führe. Dessen ungeachtet müßten die Sanktionen gegen Rußland aufrechterhalten werden. Die Sanktionen tragen allerdings massiv zum Anstieg der Energie- und Lebensmittelpreise bei, was Baerbock aber, um den Wirtschaftskrieg gegen Rußland nicht zu gefährden, schlicht leugnet.

Das Ergrauen der Grünen

Die Partei Bündnis 90/Die Grünen ist dank der sozioökonomischen Lage ihrer Wählerschaft relativ problemlos in der Lage, Krieg und Sanktionen zu eskalieren – denn ihre Anhänger sind im Vergleich zu denjenigen anderer Parteien materiell besonders gut gestellt und oft solide abgesichert. Dies hat mit der Entwicklung der Partei seit den 1980er Jahren zu tun. Waren 1980 noch fast 80 Prozent aller Grünen-Wähler jünger als 35 Jahre, so lag dieser Anteil bei der Bundestagswahl 2017 nur noch bei 27,8 Prozent. Zwar wird die Partei bis heute besonders stark von Jüngeren gewählt; bei der Bundestagswahl 2021 etwa war sie mit rund 23 Prozent der Stimmen unter den 18- bis 24-Jährigen die stärkste Kraft. Allerdings sind der Partei viele Wähler der 1980er Jahre treu geblieben; zuweilen ist von ihrem »Ergrauen« die Rede.

Das Grünen-Milieu verfügt, seinen Ursprüngen in den stark akademisch geprägten sozialen Bewegungen der 1980er Jahre entsprechend, über die höchsten Bildungsabschlüsse: Im Jahr 2016 hatten rund 37 Prozent aller Grünen-Anhänger einen Hochschulabschluß – deutlich mehr als die Anhänger der FDP (32 Prozent), der Linkspartei (31 Prozent) oder der SPD (21 Prozent).

Wohlhabend, abgesichert

Damit hängt es zusammen, daß die Grünen-Wählerschaft über klar überdurchschnittliche Einkommen verfügt. So liegt beim bedarfsgewichteten Monatseinkommen, verglichen nach Parteipräferenz, der Median – der Wert, der die gesamte Wählerschaft in zwei Hälften teilt – bei den Grünen höher als bei jeder anderen Partei. Auch beim Anteil der Beamten (10 Prozent) und beim Anteil der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst (40 Prozent) lagen die Grünen-Anhänger im Jahr 2016 mit klarem Abstand an der Spitze; Folgen von Sanktionen für die deutsche Wirtschaft schlagen kaum direkt auf sie zurück.

Hingegen gingen nur 10 Prozent ihrer Wähler sogenannten »einfachen«, also schlecht bezahlten Tätigkeiten nach – weniger als bei allen anderen Parteien. Beim Anteil der Gewerkschaftsmitglieder wurden die Grünen (18 Prozent) nur von CDZ/CSU (17 Prozent) und der FDP (16 Prozent) unterboten.

Abschied von der Friedensbewegung

Zu ihrer materiellen Situation paßt, daß die Wähler der Grünen, wie es etwa in einer knappen Analyse aus dem Jahr 2020 hieß, »heute nur noch in gesellschaftspolitischen Fragen klar links« stehen – so etwa bezüglich der Gleichstellung von LGBT –, während sie sich »in der Sozial- und Wirtschaftspolitik« längst von ihren früheren linken Positionen verabschiedet haben. In einer Zeit, in der der Abstieg des Westens den gewohnten materiellen Wohlstand bürgerlicher Milieus auch in Deutschland in Frage stellt, kommt der endgültige Abschied von früheren friedensbewegten Haltungen im Machtkampf gegen weltpolitische Rivalen – Rußland und China – hinzu.