Kultur27. Juni 2025

Zwischen Regionalität und Weltbühne:

Das Festival de Wiltz als interkulturelles Forum

von Alain Herman

Das Festival de Wiltz blickt auf eine lange Geschichte zurück – von Jazzgrößen bis hin zu großen Opern und teils legendären Theaterproduktionen. Seit den 2010er-Jahren steht das Festival de Wiltz für Interkulturalität, Diversität und lokale Verankerung. Intendant Marc Scheer erläutert, wie das Programm weiterentwickelt werden konnte, welche Rolle lokale und internationale Künstler heute spielen und wie das Festival seine Relevanz im kulturellen Leben Luxemburgs behauptet.

Inwiefern erweist sich das Wiltzer Festival nicht nur als nationale kulturelle Institution, sondern auch als Bestandteil des immateriellen Erbes der Stadt Wiltz?

Marc Scheer: Das Festival ist für viele Menschen in Wiltz ein Stück Identität. Es gehört ganz selbstverständlich zum kollektiven Selbstverständnis der Stadt – es ist immaterielles Erbe im besten Sinn. Das liegt zum einen an der einmaligen historischen Location mit dem Amphitheater beim Schloss, zum anderen aber auch an der beeindruckenden Geschichte des Festivals selbst. In den Anfangsjahrzehnten und bis in die 2000er-Jahre hinein sind hier große Namen aufgetreten, etwa Ella Fitzgerald, Miles Davis, Duke Ellington, José Carreras, Maurice Béjart mit seinem Tanzensemble, Joan Baez, oder Dee Dee Bridgewater, also quasi alle Jazz-Größen des 20. Jahrhunderts. Diese Künstlerinnen und Künstler haben das Festival auf eine Weise geprägt, die es für luxemburgische Verhältnisse fast schon mythisch gemacht hat.

Was ist von diesem mythischen Aspekt geblieben, lässt sich dieser überhaupt noch bewahren?

Der Glanz dieser Anfangsjahre begann gegen Ende der 1990er-Jahre, Anfang der 2000er-Jahre matter zu werden. Wir sind in eine neue Zeit eingetreten – mit technologischen Umbrüchen, aber auch mit wachsender Konkurrenz, gerade durch Luxemburg-Stadt. Dort wurde die Kultur stark zentralisiert, nicht zuletzt wegen der finanziellen Ressourcen, die in die Hauptstadt geflossen sind. Gleichzeitig sind im ganzen Land neue Festivals entstanden, was zwar gut ist, aber natürlich auch Auswirkungen auf unser Festival hatte. Auch die Sponsoren haben dadurch ihre Prioritäten verschoben. Die großen Summen von früher flossen logischerweise nicht mehr im selben Maß nach Wiltz.

Wie geht man mit diesem Wandel um?

Man muss realistisch sein und erkennen, dass man nicht ewig an einem Mythos festhalten kann, das führt schnell zu einer verengten lokalpatriotischen Sichtweise und zu Stillstand. Das heißt nicht, dass wir den früheren Esprit gänzlich aufgegeben haben. Er bleibt in der Erinnerung, im kollektiven Gedächtnis. Die Herausforderung ist, das Festival für die Zukunft fit zu machen. Wir müssen es weiterentwickeln, damit es auch in zehn Jahren noch relevant ist. Der Mythos darf ein neues Gesicht bekommen – eines, das sich verändern kann, ohne seinen ursprünglichen Geist zu verraten. Das Entscheidende ist, dass sich die Entwicklung organisch vollzieht, auch wenn sich das Design, das Programm oder die Struktur verändern. Man darf keine künstlichen Eingriffe machen, nur um Trends oder sogenannte Traditionen zu bedienen. Nichts ist in Stein gemeißelt. Kultur muss sich bewegen können. Und das Festival de Wiltz hat alles, was es braucht, um diesen Weg zu gehen.

Befindet man sich noch in einer Test- und Findungsphase, oder ist diese mittlerweile abgeschlossen?

Jein, von einer Testphase würde ich nicht direkt sprechen. Die Findungsphase ist noch nicht ganz abgeschlossen, aber es ist keineswegs so, dass man nicht wüsste, wohin die Reise geht oder was man machen möchte. Wir legen sehr viel Wert auf Diversität und Interkulturalität. Das ist für mich der zentrale Punkt in der Programmgestaltung. Das zeigt sich zum einen bei den Bühnen. Wir haben da einiges ausprobiert, wobei die Schlossbühne natürlich eine zentrale Rolle behalten wird. Aber insgesamt ist klar: Diversität und Interkulturalität sind inzwischen das bestimmende Merkmal des Wiltzer Festivals – und genau in diese Richtung soll es auch weitergehen.

Das bedeutet für mich auch, dass man sich vom Hochkultur-Wording lösen muss. Dieser Begriff ist zu einer leeren Floskel geworden. Was soll denn Hochkultur eigentlich sein? Eine klassische Verdi-Oper, aufgeführt von einem Mailänder Ensemble? Ich finde, man muss von diesem pseudoelitären Ritt runterkommen, wenn man sich weiterentfalten will. Und man darf nicht vergessen: Das ist teilweise auch ein Kulturbegriff, der in einer postindustriellen Zeit – und das trifft gerade auf eine Stadt wie Wiltz zu – wie ein Anachronismus wirkt.

Gewiss, früher war in Wiltz absolute Weltklasse zu sehen, insbesondere im Jazz-Bereich. Aber Künstler mit diesem Bekanntheitsgrad kann man sich heute finanziell nicht mehr leisten. Es bringt nichts, melancholisch in Nostalgie zu verweilen. Auch die Künstler, Formationen und Ensembles, die heute auftreten – etwa aus dem Worldmusic-Bereich oder dem avantgardistischen Pop –, stehen für eine Form hoher Kultur.

Diese interkulturelle Ausrichtung, die ja auch den Geist des modernen Luxemburg widerspiegelt, schließt Altbewährtes und die Zusammenarbeit mit lokalen Akteuren übrigens keineswegs aus.

Welches Publikum wird anvisiert? Ist es ein klassisches Akademikerpublikum, also gleichsam gebildete „petite bourgeoisie“, oder kann das Wiltzer Festival auch andere Bevölkerungsgruppen ansprechen?

Das Zielpublikum hat sich seit der Übernahme des Festivals durch Coopérations spürbar verändert – es ist heute deutlich durchmischter. Wir haben zum einen nach wie vor ein lokal-regionales Publikum, das dem Festival traditionell verbunden ist. Gleichzeitig beobachten wir, dass dieses Publikum jünger geworden ist und ein echtes Interesse am künstlerischen Programm zeigt.

Durch gezielte Marketingmaßnahmen und eine entsprechend ausgerichtete Programmplanung gelingt es uns zudem, verstärkt Besucher aus der Großregion anzuziehen – insbesondere aus Wallonien und aus der deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, aber auch aus der Eifel. Darüber hinaus finden weiterhin aus anderen Teilen Luxemburgs viele Menschen den Weg nach Wiltz, einschließlich Luxemburg-Stadt. Allerdings nicht mehr in dem Maße wie früher, was, wie bereits erwähnt, mit dem inzwischen sehr dichten Kulturangebot in der Hauptstadt und deren Einzugsgebiet zusammenhängt. Man denke etwa an die Fête de la Musique, die quasi zur gleichen Zeit stattfindet und ein breit gefächertes, meist kostenloses Musikprogramm bietet – das ist für uns natürlich eine starke Konkurrenz.

Deshalb müssen wir bewusst andere Wege gehen – in diesem Fall heißt das: diverser werden. Wir richten unser Angebot gezielt auch an verschiedene Communities in Luxemburg. Ich hatte ja bereits den interkulturellen Aspekt angesprochen. Ein Beispiel dafür ist das Dubioza Kolektiv aus Bosnien, das mit seiner energiegeladenen Mischung aus Ska, Punk, Dub, Reggae und Balkan-Sound sowohl die luxemburgische Community aus dem ehemaligen Jugoslawien als auch ein breiteres, neugieriges Publikum begeistert hat. Oder dieses Jahr: Carminho, die den traditionellen portugiesischen Fado mit einer zeitgenössischen Note verbindet. Ihre tiefe Verwurzelung in der Musiktradition Portugals spricht sowohl ein portugiesisches Publikum als auch Fado-Interessierte weit über Luxemburgs Grenzen hinaus an.

Das sind nur zwei Beispiele – aber sie zeigen, denke ich, sehr gut, welchen Weg wir eingeschlagen haben.

Und wie sieht es in sozialer Hinsicht aus? Lässt sich das Publikum auch auf dieser Ebene breiter aufstellen? Denn trotz des Kulturpasses ist es ja nicht immer einfach, einkommensschwache Familien oder Einzelpersonen für ein Festival zu gewinnen …

Wir sind uns dieser Problematik natürlich bewusst. Coopérations versteht sich seit seiner Gründung als kulturelle Einrichtung, die Inklusion nicht nur propagiert, sondern tagtäglich lebt – wir sind in gewissem Sinne Überzeugungstäter. Wir gehörten von Anfang an zu den Trägern und Promotern des Kulturpasses.

Trotzdem wissen wir, dass es Menschen gibt, die kulturell interessiert sind, aber durch das Raster des Kulturpasses fallen – etwa weil ihr Einkommen über dem festgelegten Limit liegt. Sie erhalten den Pass also nicht, obwohl sie finanziell aufgrund der krisenbedingten Lebensteuerung stark eingeschränkt sind. Und genau diese Menschen sind oft besonders sensibel gegenüber Eintrittspreisen. Das ist ein reales Problem – und da bildet das Wiltzer Festival keine Ausnahme.

Natürlich bemühen wir uns, die Preise möglichst fair zu staffeln. Aber als Festival mit einem vergleichsweise bescheidenen Budget stehen wir enormen Produktionskosten gegenüber, die in den letzten Jahren stark gestiegen sind. Man muss sich das vor Augen führen: Wir verfügen zwar über eine wunderbare Bühne, aber sie bringt keine eigene Produktionsinfrastruktur mit. Das heißt, alles muss extern herangeschafft werden – Technik, Ausstattung, Logistik. Das ist deutlich aufwendiger, als man auf den ersten Blick vermuten würde.

Mittelfristig könnte eine bauliche Neugestaltung der Bühne hier Abhilfe schaffen. Aber wenn man das gut und nachhaltig umsetzen will, ist mit erheblichen Investitionen zu rechnen.

Noch ein paar Worte zur diesjährigen Ausgabe. Du bist nun bereits seit einigen Jahren, zusammen mit Elvira Mittheis, gleichsam der Intendant dieses Festivals. Was sind – wir wissen, dass es schwer ist, alle Acts zu nennen – deine „coups de cœur“ in diesem Jahr?


Darauf kann ich ohne Zögern antworten. In diesem Jahr ist es zum einen Circus Baobab, die mit ihrem neuen Performancestück bei uns auftreten werden – ein spannendes Werk, das seine Premiere im Escher Theater gefeiert hat. Es handelt sich um eine junge, innovative afrikanische Truppe, die, um es salopp zu formulieren, richtig Feuer unter dem Hintern hat. Sie vermag es, das Publikum mit ihrer Kunst unmittelbar mitzureißen.

Zum anderen – für mich persönlich ganz selbstverständlich – die deutsche Band Element of Crime um den Musiker und Autor Sven Regener. Ich verfolge die Karriere dieser Band seit Jahrzehnten und habe große Bewunderung für Regeners Schaffen. Er ist ja auch kein Unbekannter im Kontext des Wiltzer Festivals: Im vergangenen Jahr stand die theatralische Inszenierung seines Romans Magical Mystery auf dem Programm.

Natürlich kann ich auch alle anderen Acts nur wärmstens empfehlen – vom Kindertheater über Flamenco und Fado bis hin zu Crossover-Rock mit Skunk Anansie oder den introspektiven Liedermacher-Chansons von José González. Mein Appell: Kommt nach Wiltz – lasst euch überraschen!