Ausland12. September 2009

Chile: Politik im Schatten der Diktatur

Die Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit ist noch lange nicht abgeschlossen

36 Jahre nach dem Militärputsch gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende in Chile ergibt sich ein ambivalentes Bild: Die juristische Aufarbeitung schreitet zwar voran, doch das »System Pinochet« lebt im Staat weiter.

129 ehemalige Mörder und Folterer der Pinochet-Diktatur erlebten den gestrigen 36. Jahrestag des Militärputsches in Chile in Haft. Vor wenigen Tagen ließ Ermittlungsrichter Victor Montiglio Haftbefehle gegen Polizisten, Militärs und Geheimdienstmitarbeiter aus den Zeiten der Gewaltherrschaft (1973-1990) vollstrecken. Den Männern konnte die Beteiligung an mehreren Terrorkampagnen nachgewiesen werden, denen Hunderte Gegner des Pinochet-Faschismus zum Opfer fielen.

Montiglio hatte die Ermittlungen gegen politische Gewaltverbrecher 2006 von seinem Kollegen Juan Guzmán übernommen, der seit 1998 gegen Augusto Pinochet und seine Schergen vorgegangen war. Die jüngsten Festnahmen betreffen maßgeblich zwei Militärkampagnen: Die »Opera­tion Cóndor«, in deren Verlauf in den 70er Jahren in sechs diktatorisch beherrschten Staaten Südamerikas Hunderte Demokraten ermordet wurden. Und die »Operation Colombo«, der 1975 mindestens 119 chilenische Oppositionelle zum Opfer fielen.

Die Festnahmen der 129 Delinquenten sind das jüngste Kapitel der juristischen Aufarbeitung der Diktatur. Beginn und Höhepunkt der Justizoffensive gegen die chilenischen Menschenrechtsverbrecher war die Festnahme Pinochets im September 1998 in London. Auch wenn der Despot bis zu seinem Tod im Dezember 2006 einer Haftstrafe entgehen konnte, wurde das Eis damals gebrochen. Inzwischen sind Hunderte Verantwortliche für Verbrechen während der Diktatur zur Rechenschaft gezogen worden. Vor allem aber wurde in Chile eine längst überfällige Debatte über die faschistische Herrschaft angestoßen.

Daß diese Aufarbeitung der Vergangenheit noch lange nicht abgeschlossen ist, zeigte sich parallel zu den jüngsten Verhaftungen in Santiago de Chile. Mitte dieser Woche mußte der Oberkommandierende der Armee, General Oscar Izurieta, vor der verteidigungspolitischen Kommission des Abgeordnetenhauses vorsprechen. Der Grund: Izurieta hatte zahlreichen Militärs und Geheimdienstmitarbeitern Pinochets Anstellungen bei der Armee verschafft. Nachdem die Zusammenarbeit öffentlich geworden war, mußte der führende Militär die Verträge wieder kündigen. »Das ist ein schwerwiegender Zwischenfall«, schrieb die Wochenzeitschrift der Kommunistischen Partei Chiles, »El Siglo«: »Während Tausende ihrer Opfer, ehemalige politische Gefangene und Exilanten vergeblich auf nur einen Centavo Entschädigung warten, stehen die Menschenrechtsverletzer wieder auf der Gehaltsliste der Armee.« Weiter heißt es in dem Blatt: »Die Demokratisierung der Streitkräfte ist eine Aufgabe, die wir nun sehr ernst nehmen müssen.«

Das Erbe der Diktatur spielt auch eine zentrale Rolle im laufenden Wahlkampf. Am 13. Dezember wird in Chile nicht nur über die Nachfolge von Präsidentin Michelle Bachelet abgestimmt, auch die Mitglieder des Senats und des Abgeordnetenhauses werden neu bestimmt. Unlängst machte der ehemalige christdemokratische Präsident (1994-2000) und Kandidat des Regierungsbündnisses »Concertación«, Eduardo Frei, überraschend den Vorschlag einer Verfassungsreform. Das geltende Grundgesetz wurde im Jahr 1980 – auf dem Höhepunkt von Pinochets Terrorherrschaft – nach neoliberalen und antidemokratischen Vorgaben verfaßt. »Man wollte uns über Jahre hinweg weismachen, daß das wirtschaftliche Modell das Wichtigste für ein Land sei«, sagte Frei zu der Initiative einer Verfassungsreform, die er sogar in sein Wahlprogramm aufnahm: »Aber ich sage Ihnen, das Wichtigste ist die Verfassung.«

Der Christdemokrat handelt jedoch nicht aus eigener Motivation. Die demokratischen und linken Kräfte in Chile drängen mit zunehmender Vehemenz auf eine neue Staatsordnung. Erst dann, so heißt es von dieser Seite, sei die Diktatur überwunden. Ende August kamen die Parteien des Regierungsbündnisses mit Vertretern der KP und der Partei Christliche Linke zusammen, um eine Demokratisierung des politischen Systems zu beraten. Die Initiative für einen strategischen Pakt aller demokratischen Kräfte habe die im März 2005 verstorbene Generalsekretärin der Kommunistischen Partei Chiles, Gladys Marín, bereits 1997 vorgetragen, erinnerte der KP-Vorsitzende Guillermo Teillier in einem Zeitungsinterview vor wenigen Tagen. Damals hätten die anderen Parteien den Vorschlag der Kommunisten abgelehnt. Daß ein erstes Sondierungsgespräch nun stattfand, erfreut Teillier: »Es ist das erste Mal, daß sich die Chance auf eine Überwindung der politischen Ausgrenzung bietet«, sagte er. Es wäre falsch, dies nicht zu nutzen.

Harald Neuber