Energiewende rückwärts?
In der EU und ihren Vorläuferorganisationen hatten es Gegner der Kernenergienutzung noch nie leicht. Schon als die Vertreter Belgiens, Frankreichs, Italiens, Luxemburgs, der Niederlande und Westdeutschlands 1957 die Römischen Verträge zur Schaffung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) unterzeichneten, schlossen sie noch am selben Tag den bis heute gültigen EURATOM-Vertrag.
Vor sechs Jahrzehnten war die Kernenergie noch eine Verheißung für die Zukunft: eine größere Unabhängigkeit von den Ölscheichs am Golf, keine Abgasemissionen, scheinbar unbegrenzte Ressourcen, neue Möglichkeiten der Energiegewinnung für die »Dritte Welt« – all das schien die zivile Nutzung der Atomkraft zu versprechen. Widerstand gegen den Bau von Atomkraftwerken gab es damals nur selten. Mit EURATOM sollte diese – aus damaliger Sicht – »Energiequelle der Zukunft« staatlich gefördert werden.
Mittlerweile ist die Kernenergienutzung in der EU eher auf dem Rückzug. Viele nationale Regierungen setzen auf erneuerbare Energien, es gibt nur noch wenige Projekte für den Neubau von Atommeilern und die meist staatlich kontrollierten Energiekonzerne strukturieren sich um. Und dennoch existiert EURATOM fast unverändert in der Fassung von 1957. Substantielle Veränderungen gab es nie – auch nicht 1986 nach dem bis dato »größten anzunehmenden Unfall« im ukrainischen AKW Tschernobyl oder 2011 nach dem neuerlichen »Super-GAU« im japanischen AKW Fukushima. Sämtliche EU-Staaten sind automatisch auch Mitglied in der Europäischen Atomgemeinschaft.
Doch immerhin zählt die EU-Führungsmacht Deutschland seit der Reaktorkatastrophe in Japan zu den Atomkraftgegnerstaaten und hat sich bereits im Juli zusammen mit Dänemark, Luxemburg, Österreich und Spanien in einer gemeinsamen Erklärung der zuständigen Minister an die EU-Kommission deutlich gegen diese, so wörtlich, »Hochrisikotechnologie« ausgesprochen.
Die Erklärung der fünf Mitgliedstaaten, die im Hinblick auf eine schon Ende November anstehende Grundsatzentscheidung der EU hinsichtlich des künftigen Umgangs mit der Atomenergie erfolgte, blieb nicht unwidersprochen. Am Montag schrieb Bruno Le Maire, der Wirtschafts- und Finanzminister des neoliberalen französischen Präsidenten Emmanuel Macron, einen offenen Brief in Springers »Welt«, der überschrieben ist mit »Warum Europa Kernenergie braucht«.
Neben der Le Maires trägt der offene Brief, in dem behauptet wird, die Kernenergie werde im Kampf gegen den menschgemachten Klimawandel und für eine »kohlenstoffreie Zukunft« gebraucht, auch die Unterschriften der zuständigen Minister Bulgariens, Finnlands, Kroatiens, Polens, Rumäniens, der Slowakei, Sloweniens, Tschechiens und Ungarns.
Die Niederlande haben zwar nicht unterschrieben, schließen aber nicht aus, ihre Kernkraftanlagen auszubauen. Gleiches gilt für Roberto Cingolani, den parteilosen Minister »für den ökologischen Übergang« im Kabinett des ebenfalls parteilosen italienischen Regierungschefs Mario Draghi, der ebenfalls vor wenigen Wochen angedeutet hat, möglicherweise zur Nutzung der Kernenergie zurückzukehren. Das wäre in Italien, das sich 1987 als erstes europäisches Land per Referendum von der industriellen Nutzung der Kernkraft verabschiedet hat, eine energiepolitische Rolle rückwärts.
Nach dem Ausscheiden Britanniens aus der EU sollten Atomkraftgegner dieses eine Mal hoffen, daß sich Deutschland und seine Bündnispartner gegen Frankreich und die seinigen durchsetzt.