Ausland18. Mai 2024

Neukaledonien in Aufruhr

Regierung in Paris provoziert durch stures Vorgehen Gewalt der Straße

von Ralf Klingsieck, Paris

Die bürgerkriegsähnlichen Zusammenstöße im östlich von Australien gelegenen französischen Überseeterritorium Neukaledonien haben bis Freitag bereits fünf Tote und Dutzende Verletzte gefordert. Um die Unruhen unter Kontrolle zu bekommen, hat Präsident Emmanuel Macron den Ausnahmezustand über die Inselgruppe im Pazifik verhängt. Zur Verstärkung der Kräfte vor Ort wurden aus Frankreich mehr als 1.000 Polizisten, Gendarmen und Militärs eingeflogen.

Damit stehen den schätzungsweise 9.000, zumeist jugendlichen Aufständischen 2.700 Ordnungskräfte gegenüber. Deren Aufgabe ist es vor allem, die öffentlichen Gebäude und die Lokalpolitiker zu schützen, die durch gewalttätige Splittergruppen der Unabhängigkeitsbewegung angegriffen werden, sowie Barrikaden zu beseitigen und den Verkehr zu sichern. Ferner gilt es zu verhindern, daß weiter Läden und Unternehmen überfallen, ausgeplündert und angezündet werden. Nicht zuletzt sollen auch die Bürgermilizen entwaffnet und aufgelöst werden, die spontan entstanden sind, um die Einwohner und ihre Häuser vor den gewalttätigen Ausschreitungen zu schützen.

Ursache für die Unruhen in Neukaledonien ist ein neues Wahlgesetz für lokale Abstimmungen auf der pazifischen Inselgruppe. Durch die »Reform« wird beispielsweise die Aufenthaltsdauer von zugezogenen Franzosen, die Voraussetzung für das Wahlrecht ist, von bisher acht auf künftig drei Jahre abgesenkt. Dadurch verschiebt sich der Anteil der »europäischen« Wähler gegenüber den »Eingeborenen«.

Der Gesetzentwurf fand Mitte der Woche in einer Nachtsitzung in der Pariser Nationalversammlung eine Abstimmungsmehrheit, weil das Regierungslager in diesem Falle durch die rechte Oppositionspartei der Republikaner und durch das rechtsextreme Rassemblement National unterstützt wurde. Im Senat war das Gesetz bereits vor Monaten angenommen worden. Doch da es sich bei dieser Wahlrechts-»Reform« um eine Verfassungsänderung handelt, ist noch eine Abstimmung mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Kongreß, der gemeinsamen Sitzung beider Kammern des Parlaments, nötig.

Die Unabhängigkeitsbewegung Front de libération nationale kanak et socialiste (FLNKS), die trotz ihres historischen Namens heute nicht mehr für die völlige Abtrennung von Frankreich eintritt, sondern für Gleichberechtigung der Nachfahren der Ureinwohner und deren weitgehende Autonomie im französischen Staatsverband, kritisiert die Gewaltakte radikaler jugendlicher »Unabhängigkeitskämpfer«, aber auch das Vorgehen des Präsidenten und der Regierung in Paris, die wohl etwas leichtfertig und eigentlich ohne zwingenden Grund das Gesetz – noch dazu ohne vorhergehende Konsultationen oder Verhandlungen mit den Organisationen und Parteien Neukaledoniens – auf den Weg gebracht haben und so offenbar vollendete Tatsachen schaffen wollten.

Durch die Reform erhöht sich die Zahl der wahlberechtigten »europäischen« Einwohner Neukaledoniens, also der »Caldoches« genannten Nachfahren der Kolonialbeamten und Militärs und der später aus Europe gekommenen Franzosen. Dagegen verlieren die Kanaken, die Nachfahren der Ureinwohner, die heute nur noch 39 Prozent der Einwohner ausmachen, noch mehr von ihrem bereits geringen Einfluß. Die Ärmeren unter ihnen sind nicht für die Unabhängigkeit von Frankreich, weil sie den Wegfall des französischen Sozialhilfesystems fürchten.

Die Inselgruppe hat zwar ein Durchschnittseinkommen, das über dem der anderen französischen Überseeterritorien und nicht viel unter dem des »Mutterlandes« liegt, aber die Unterschiede zwischen Arm und Reich, zwischen dem wirtschaftlichen Zentrum um die Hauptstadt Numea und dem bitterarmen Norden, sind gewaltig. Entsprechend votierten bei den Referenden von 1998, 2018 und 2021, die 1998 nach blutigen Unruhen und nachfolgenden Verhandlungen zwischen der Regierung und der FLNKS vereinbart worden waren, bis zu 80 Prozent der Wähler für den Verbleib bei Frankreich.

Die Wahlrechtsänderung soll aus Pariser Sicht helfen, das zu zementieren. Neukaledonien, das sich Frankreich 1853 handstreichartig angeeignet und zunächst zu einer Strafkolonie gemacht hatte, wohin beispielsweise Kämpfer der Pariser Kommune von 1871 deportiert wurden, soll auf Dauer französisch bleiben – als gleichberechtigter Bestandteil des Landes und nicht etwa als Kolonie.

Woanders sieht man das anders. So steht Neukaledonien auf Druck einer Mehrheit afrikanischer, asiatischer und lateinamerikanischer UNO-Mitgliedstaaten nach wie vor in der Weltorganisation auf einer Liste von Territorien, wo die »Entkolonialisierung« immer noch nicht vollzogen wurde.

Zweifellos um Frankreich international zu schaden und ihm die Unterstützung von Armenien im Konflikt um Bergkarabach heimzuzahlen, hat vor Wochen das an Ölmilliarden reiche Aserbaidschan demonstrativ ein »Hilfsabkommen« mit der Cellule de coordination des actions sur le terrain (CCAT), einer erst Ende 2023 gegründeten radikalen und gewaltbereiten Splittergruppe der Unabhängigkeitsbewegung in Neukaledonien geschlossen. Daß es da einen Zusammenhang geben muß, zeigte sich schon daran, daß in den vergangenen Tagen CCAT-Demonstranten und Plünderer die Fahne Aserbaidschans schwenkten und diese auch auf Straßenbarrikaden flatterte.

Auch die Bodenschätze Neukaledoniens wecken Interesse, denn die Inselgruppe verfügt über die viertgrößten Nickel-Vorkommen der Welt nach Australien, Brasilien und Rußland. Doch vor allem ist die Inselgruppe für Frankreich und darüber hinaus für die EU von geostrategischer Bedeutung angesichts des Kräftemessens zwischen den USA und China, die beide im Pazifik nach Positionen und Verbündete suchen, die sie durch Wirtschafts- und Militärhilfe an sich binden können, während die EU in diesem Raum und damit auch weltpolitisch immer mehr an Einfluß verliert.

Die Französische Kommunistische Partei hat die jüngsten Entwicklungen in und um Neukaledonien scharf kritisiert. »Mehr als 30 Jahr lang haben es die aufeinander folgenden Präsidenten der Republik und ihre Regierungschefs verstanden, den auf die unparteiische Haltung des Staates gegründeten Prozeß der Abstimmung, des Gleichgewichts und des Respekts aller beteiligten Parteien untereinander am Leben zu erhalten«, heißt es in einer Erklärung der PCF. »Das ist heute in Frage gestellt, und verantwortlich für diese Krise sind Präsident Emmanuel Macron und sein Premier Gabriel Attal, die mit ultimativen Forderungen auftreten.«

Die Wut, die sich heute explosionsartig entlädt, sei die bittere Folge dieser zerstörerischen Politik und auch die Konsequenz der starken sozialen Ungleichheiten in Neukaledonien. »Indem sie den Ausnahmezustand verhängt und bereits für Ende Juni den Kongreß für die Verfassungsänderung anberaumt haben, zeigten sich Macron und Attal in denkbar schlechter Weise als Vertreter einer Kolonialvergangenheit, von der wir gehofft hatten, daß sie längst hinter uns liegt«, heißt es weiter in der Erklärung der PCF. »Es gilt, so schnell wie möglich auf den Weg des Dialogs und des gegenseitigen Respekts zurückzufinden. Erste Voraussetzung ist, daß das Wahlreformgesetz sofort zurückgezogen wird.«