Atomwaffen für »Europa«
In Berlin wird die Forderung nach atomarer Bewaffnung der EU lauter. Paris erklärt nuklearen Erstschlag für möglich
In Deutschland erstarkt die Forderung nach einer atomaren Bewaffnung der EU. Einem Plädoyer des in Berlin recht einflußreichen Publizisten Herfried Münkler, »Europa« müsse »atomare Fähigkeiten aufbauen«, hat sich jetzt auch der ehemalige deutsche Außenminister Josef Fischer angeschlossen: »Die EU braucht eine eigene atomare Abschreckung«, behauptet Fischer. Begründet wird die Forderung, die von auflagenstarken deutschen Medien verbreitet wird, mit der Einschätzung, im Falle eines Sieges von Donald Trump bei der Präsidentenwahl in den USA im November sei »der nukleare Schutzschirm« der Vereinigten Staaten über Europa nicht mehr gesichert; die EU müsse über eine Alternative verfügen.
Kontext ist die Aufrüstung gegen Rußland, die von der Bundesregierung energisch vorangetrieben wird; zur konventionellen Aufrüstung und zur Propagierung von »Kriegstüchtigkeit« kommt nun auch das Streben nach einer nuklearen Bewaffnung hinzu. Frankreichs Force de frappe reiche nicht aus, weil man nicht sicher sein könne, ob Paris im Kriegsfalle wirklich dazu bereit sei, »Litauen oder Polen zu schützen«, erklärt Münkler.
Trump und die NATO
Hintergrund der neuen Debatte über die Beschaffung von Atomwaffen sind, so heißt es, Überlegungen, wie sich die Politik der USA gegenüber »Europa« verändern könnte, sollte Donald Trump im November kommenden Jahres erneut zum USA-Präsidenten gewählt werden. Dabei wird auf Berichte verwiesen, laut denen Trump vorhabe, gegenüber der NATO auf Distanz zu gehen bzw. sie »auf Stand-by« zu setzen, wie es in einem Artikel in der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« vom 3.12.2023 heißt.
Aus Trumps politischem Umfeld seien Pläne bekannt, die NATO »schlafen« zu lassen, die USA-Truppen aus Europa abzuziehen und das Bündnis allenfalls noch in einem »großen Krieg« wiederzuerwecken. Für das zentrale Interesse der USA, den Machtkampf gegen China zu gewinnen – notfalls auch militärisch –, sei das transatlantische Bündnis nicht wirklich relevant, heißt es ergänzend.
Das werde Trump in der Abkehr von der NATO, mit der er schon während seiner ersten Amtszeit geliebäugelt habe, vermutlich noch bestärken. Komme es zu einem militärischen Rückzug der USA aus Europa und womöglich sogar aus der NATO, dann seien »die Staaten Europas« nicht nur gezwungen, ihre konventionelle Rüstung deutlich in die Höhe zu fahren. Sie müßten außerdem über eine neue atomare Bewaffnung entscheiden, weil der US-amerikanische Nuklearschirm dann wohl kaum noch greifen werde, schreiben die Autoren des Artikels.
»Atom-Supermacht Europa«
Der Bericht in der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung«, der all diese Überlegungen skizziert, weist darauf hin, daß eine vergleichbare Lage bereits nach Trumps Wahlsieg im November 2016 entstanden sei. In diesem Zusammenhang müsse, so heißt es, ein Vorstoß der grauen Eminenz der damaligen polnischen Regierung, Jarosław Kaczyński, vom Februar 2017 gesehen werden. Kaczyński erklärte damals, er würde die Etablierung einer »Atom-Supermacht Europa begrüßen«.
Bereits zuvor war in Deutschland über die nukleare Bewaffnung der EU oder auch der Bundesrepublik diskutiert worden. Die Debatte ebbte bald wieder ab; wie es jetzt heißt, waren vor allem NATO-Funktionäre bemüht, sie abzuwürgen, angeblich »um Trump keinerlei Anlaß zum Abzug von USA-Truppen aus Europa zu bieten« oder auch nur zum Abzug der US-amerikanischen Atombomben, die im Rahmen der sogenannten nuklearen Teilhabe in mehreren europäischen Staaten stationiert sind, darunter in der Bundesrepublik Deutschland unweit der Grenze zu Luxemburg.
Die Debatte flammt jetzt allerdings mit Blick auf die Möglichkeit, daß Trump die nächste Wahl erneut gewinnt, wieder auf. Wie damals wird sie auch heute wieder vor allem in Deutschland medial befeuert.
»Gemeinsamer Koffer mit rotem Knopf«
Bereits am 14. November äußerte sich in diesem Sinne in einer populären Fernseh-Talkshow ein Kolumnist der »Berliner Morgenpost«, Hajo Schumacher. Schumacher erklärte, in der Diskussion über den Konflikt mit Rußland habe man bislang »das heikelste Thema noch gar nicht angesprochen«: »Wir werden uns fragen müssen: Brauchen wir in Deutschland eigene Atomraketen?«
Ähnlich äußerte sich Ende November der Politikwissenschaftler und einflußreiche Polit-Publizist Herfried Münkler. Münkler verlangte in einem Presseinterview: »Europa muß atomare Fähigkeiten aufbauen«. Zwar besitze Britannien »Atom-U-Boote, Frankreich die Bombe«; doch sei keineswegs garantiert, daß eines der beiden Länder oder gar beide sie einsetzen würden, um etwa »Litauen oder Polen zu schützen«. Münkler forderte explizit: »Wir brauchen einen gemeinsamen Koffer mit rotem Knopf, der zwischen großen EU-Ländern wandert.«
»Atomare Abschreckung« der EU
Aktuell hat der frühere deutsche Außenminister Joseph »Joschka« Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) nachgelegt. Fischer erklärte am vorigen Wochenende in einem Interview: »Wir müssen unsere Abschreckungsfähigkeit wiederherstellen«. Das sei unumgänglich, wenngleich es ihm »überhaupt nicht« gefalle, erklärte Fischer und zog zur Begründung den Konflikt mit Rußland heran: »Solange wir einen Nachbarn Rußland haben, der der imperialen Ideologie Putins folgt, können wir nicht darauf verzichten, dieses Rußland abzuschrecken.«
Außer einer umfassenden konventionellen Aufrüstung, die allerdings »nicht mit Schuldenbremse und ausgeglichenem Haushalten« möglich sei, sei dabei auch eine nukleare Bewaffnung notwendig. Fischer wurde unter anderem gefragt, ob die Bundesrepublik sich auf nationaler Ebene nuklear bewaffnen solle. »Das ist in der Tat die schwierigste Frage«, erklärte Fischer: »Soll die Bundesrepublik Atomwaffen besitzen? Nein. Europa? Ja.« »Die EU«, sagte er, »braucht eine eigene atomare Abschreckung.«
Zum Erstschlag bereit
Die neue Atomwaffendebatte führt zu neuen Auseinandersetzungen zwischen Berlin und Paris. Hintergrund ist, daß Frankreich als einziger EU-Staat Atomwaffen besitzt. Präsident Emmanuel Macron dringt darauf, das geplante »Europäische Flugabwehrsystem« (European Sky Shield Initiative, ESSI) um eine nukleare Abschreckungskomponente zu erweitern. Da diese nach Lage der Dinge von Frankreich gestellt würde und Paris einen herausragenden Einfluß erlangen würde, lehnt die Bundesregierung die Pläne ab.
Französische Politiker betonen unterdessen, man sei im Grundsatz auch bereit, als erste Atomwaffen einzusetzen. »Frankreich sagt nicht, daß es nur einen Zweitschlag in Erwägung zieht«, erklärt Thomas Gassilloud, Vorsitzender im Verteidigungsausschuß der Nationalversammlung. Gassilloud wurde am 21. November in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« mit der Aussage zitiert, Paris behalte es sich vor, »auch auf konventionelle Angriffe mit einem Erstschlag zu reagieren«.