Tatort Ostsee
Die Bilanz der Nord Stream-Sprengung
Vor einem Jahr wurden die Nord Stream-Pipelines gesprengt. Die Tat ist immer noch nicht aufgeklärt; die Folgen für die Erdgasversorgung in Westeuropa wiegen schwer.
Bereits unmittelbar nach der Tat waren Experten überzeugt, die Sprengung müsse in staatlichem Auftrag verübt worden sein; allzu groß seien die Menge an Sprengstoff und der logistische Aufwand, um eine Explosion herbeizuführen, die noch in erheblicher Entfernung von geologischen Meßstationen als Erdbeben registriert werde, wie es bei der Sprengung der Nord Stream-Pipelines ja der Fall gewesen sei.
Recherchen des investigativen US-amerikanischen Journalisten Seymour Hersh ergaben, der Anschlag sei von USA-Stellen in Kooperation mit Soldaten der norwegischen Streitkräfte durchgeführt worden. Politik und Medien in Deutschland – und dementsprechend auch in Luxemburg – favorisieren hingegen eine These, der zufolge polnische und ukrainische Privatpersonen schuldig seien. Das widerspricht freilich der Überzeugung, die Durchführung sei ohne Fähigkeiten und Kapazitäten, über die nur Staaten verfügen, nicht möglich gewesen.
Juristen stufen die Tat, sollte sie von Rußland oder der Ukraine begangen worden sein, als Kriegsverbrechen, habe ein Drittstaat sie durchgeführt, als terroristischen Anschlag ein. Schadensersatz werde es nicht geben, erklärt der Bonner Völkerrechtler Stefan Talmon: Vor Gericht könne sich jeder Täterstaat auf sogenannte Staatenimmunität berufen, die auch für solche rechtswidrigen Anschläge gilt.
Auch künftig ausgeschlossen
Steht immer noch nicht fest, wer die zwei Erdgasleitungen bzw. drei ihrer vier Stränge aus Rußland nach Deutschland gesprengt hat, so liegen die Konsequenzen klar auf der Hand: Die Option, größere Mengen Pipelinegases aus Rußland zu beziehen, entfällt nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für die Zukunft – auch für den Fall, daß die mögliche Einigung auf einen Waffenstillstand zwischen Moskau und Kiew mit einer Reduzierung der Sanktionen gegen Rußland verbunden sein sollte.
Zwar gilt schon der Gedanke, die Bundesrepublik Deutschland könne irgendwann wieder russisches Pipelinegas beziehen, unter Experten weithin als »unsinnig« oder gar »absurd«. Daß dies freilich nicht unter allen Umständen so sein muß, zeigt das Beispiel Japan. Tokio beteiligt sich an den Rußland-Sanktionen des Westens, nimmt aber die Einfuhr russischen Flüssiggases, von der das Land abhängig ist, ausdrücklich davon aus. Die japanischen Konzerne Mitsui und Mitsubishi halten unverändert insgesamt 22,5 Prozent an dem russischen Erdgasförderprojekt Sachalin 2, das rund 9 Prozent der japanischen Flüssiggaseinfuhr deckt. Tokio sucht außerdem die japanische Beteiligung am russischen Förderprojekt Arctic LNG 2 zu sichern, wenngleich das Vorhaben inzwischen auch Ziel neuer USA-Sanktionen ist.
Neue Importstrukturen
Das definitive Ende des Bezugs von Erdgas über die Nord Stream-Röhren hat eine rasante Umstellung der deutschen Importstrukturen erforderlich gemacht. Bezog die Bundesrepublik Anfang 2022 noch gut ein Drittel ihres Erdgases allein über Nord Stream 1, so weisen die gängigen Branchenstatistiken die Einfuhr aus Rußland seit September 2022 mit Null aus. Zum größten Lieferanten, der zuletzt fast die Hälfte aller deutschen Erdgasimporte stellte, ist an Rußlands Stelle Norwegen aufgestiegen; es folgen die Niederlande und Belgien. Luxemburg bezieht sein Erdgas in erster Linie aus Belgien, in geringeren Mengen auch aus Deutschland.
Der Anteil des Flüssiggases, das über die neuen Importterminals an der deutschen Küste direkt angeliefert wurde, belief sich im ersten Halbjahr 2023 auf lediglich 6,4 Prozent. Letzteres stammte nach Angaben des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) zum allergrößten Teil aus den USA.
Allerdings geben die Angaben die tatsächlichen Quellen des in Deutschland verbrauchten Erdgases nur unzulänglich wieder. So wird beispielsweise aus Belgien auch Flüssiggas eingeführt, das in Zeebrugge regasifiziert und anschließend weitertransportiert wird. Beim BDEW heißt es dazu, grenzüberschreitend gehandeltes Gas könne »nicht eindeutig Herkunftsländern zugeordnet werden«. Grund sei »die teilweise enge Vermaschung des europäischen Pipelinenetzes«, in dem sich beständig »die Erdgasarten unterschiedlicher Herkunft vermischen«.
Teurer als je zuvor
Aufschlüsse über die Flüssiggaseinfuhren lassen allerdings zum Beispiel Angaben der Analysefirma Kpler zu. Unter Berufung auf diese berichtete kürzlich die »Financial Times«, größter Flüssiggaslieferant der EU seien in den ersten sieben Monaten des Jahres 2023 mit knapp 43 Prozent der Gesamteinfuhr die USA gewesen. Die zweitgrößte Menge sei mit rund 16 Prozent aus Rußland gekommen.
Laut Berechnungen der Organisation global witness, die sich ebenfalls auf Daten von Kpler stützen, hat die EU ihre Einfuhr russischen Flüssiggases im Zeitraum von Januar bis Juli 2023 um 40 Prozent gegenüber dem Vorkriegs-Vergleichszeitraum im Jahr 2021 erhöht; heute kauft sie mehr als die Hälfte aller russischen Flüssiggasexporte – gut 52 Prozent.
Zweitgrößter Abnehmer russischen Flüssiggases weltweit ist Spanien, das rund 18 Prozent aller russischen Exporte erwirbt – kaum weniger als Spitzenreiter China (20 Prozent); drittgrößter Abnehmer russischen Flüssiggases ist Belgien (17 Prozent), der größte Lieferant für Luxemburg. Dabei gilt auch für russisches Flüssiggas: Es ist wegen der aufwendigen Verarbeitung teurer als Pipelinegas. Die EU-Staaten, darunter Luxemburg, bezahlen heute also viel mehr für Erdgas, das sie aus Rußland importieren, als vor dem Embargo, das mit dem Ukraine-Krieg begründet wird.
Besonders umweltschädlich
Das Ende des Erdgasbezugs über die Nord Stream-Leitungen hat dazu geführt, den Bau von Flüssiggas-Importterminals an den Küsten noch energischer als zuvor voranzutreiben.
Gegen die Pläne, ein Terminal vor der Ostseeinsel Rügen zu bauen, regt sich Protest: Umweltaktivisten kritisieren gravierende Schäden für das regionale Ökosystem. Kritisiert wird zudem, daß vor allem Flüssiggas aus den USA eingeführt wird; dieses gilt, da es überwiegend per Fracking gefördert und per Schiff über den Atlantik transportiert wird, als besonders umweltschädlich.
Nicht zuletzt heißt es, die Tatsache, daß die Terminals bis 2043 genutzt werden dürften, verlängere die Zeit, in der noch fossile Energieträger genutzt werden. Selbst Nord Stream 2, längst fertiggebaut, hätte sich viel früher amortisiert.