Ausland29. April 2009

Der »dialektische« Gang des Georg Lukács durch das 20. Jahrhundert

Vom idealistischen Ästhetizisten zu einem Neoklassiker des Marxismus-Leninismus

Georg Lukács? War das nicht der marxistische Philosoph und Literaturwissenschaftler aus Ungarn? Stimmt, doch bis zum »Marxisten« Lukács war es ein langer, gleichsam faustischer Bildungsweg, denn der mit der deutschen Kultur aufgewachsene und aus einer assimilierten jüdischen, neuadligen Bankiersfamilie stammende Lukács, kam erst recht spät mit dem Schrifttum von Karl Marx und Friedrich Engels in Kontakt.

1. Theorie und Praxis

Zuvor brillierte er als ästhetizistischer bürgerlicher Flaneur mit einer Reihe von literarischen Essays (z.B. »Die Seele und die Formen«), die unter anderem das Lob desjenigen Schriftstellers ernteten, dem er sich, was das Weiterleben der kulturellen bürgerlichen Werte im real existierenden Sozialismus betrifft, besonders verbunden fühlte, nämlich Thomas Mann. Erst nach der Lektüre der Werke von Marx und Engels – mit Hegel war er bereits seit seiner Jugendzeit vertraut – und wenig später der opera magna von Lenin vermochte er seine geistigen Fähigkeiten vollends zu entfalten und jenen Mechanismen auf den Grund kommen, die den welthistorischen Prozess, zu dem eben auch Literatur- und Kunstschöpfung gehören, in Schwung halten.

Nicht dass er dabei sein glänzendes bürgerlich-idealistisches Wissensarsenal wie lästigen Plunder über Bord warf; loin de-là, auf einer höheren Denkstufe gelang es ihm wie keinem anderen materialistischen Ästhetiker seiner Zeit, die alten künstlerischen Leistungen und Verdienste konkret in den revolutionär-zukunftweisenden Kontext des Marxismus-Leninismus einzuordnen.

So wie das philosophisch-ideologische, so folgerichtig auch das politische Curriculum. Thomas Mann gibt uns in seinem Werk zudem indirekt Auskunft über die politische Entwicklung des marxistischen Hegelianers. Im zweiten Teil des »Zauberberg« trifft man auf eine – nach den Worten des Erzählers – äußerlich potthässliche, keifende Jesuitengestalt namens Naphta, die sich in den hitzigen Diskussionen mit ihrem tiefbürgerlichen und naiv-liberalen Gegenpart Lodovico Settembrini als Anhänger der kommunistischen Idee offenbart, dabei allerdings den wissenschaftlichen Marxismus völlig negiert, sich logischerweise in irrationalistischen Aporien ergeht und letztlich mit klerikalfaschistischem Gedankengut aufwartet.

Nun ist es längst kein Geheimnis mehr, dass Thomas Mann sich den jungen Lukács sozusagen als Vorlage zunutze machte, um diese schillernde fiktive Figur zu entwerfen. Die Parallelen sind zwar zum größten Teil äußerlich-struktureller Natur (Lukács selbst störte es nicht) – auch Naphta im »Zauberberg« besitzt jüdische Wurzeln, auch er ist in gewissem Sinne ein »Konvertierter« –, doch der in puncto Menschenkenntnis erfahrene »Apollon« des deutschen psychologischen Realismus trifft bei der Zeichnung des ideologisch völlig überspannten Jesuiten einen vorübergehenden Wesenszug des ehemaligen Volkskommissars der ungarischen Räterepublik, die temporäre trotzkistisch-fichteanische Exzentrizität des Magyaren.

Mann, ein langjähriger Freund der großbürgerlich-halbadligen Familie Lukács, kannte, wenn auch nur oberflächlich, den asymmetrischen Werdegang des Sprösslings der Bankiersfamilie. Nach einer von Georg Lukács herbeigesehnten und arrangierten Begegnung in Wien im Jahre 1922 – Lukács befand sich nach dem Zusammenbruch der ungarischen Räterepublik im August 1919 wie so viele Mitglieder des Regimes von Béla Kun (den er übrigens als Intimfeind betrachtete) im österreichischen Exil –, notierte Thomas Mann folgende bemerkenswerte Zeilen ins Tagebuch: »Er hat mir einmal in Wien eine Stunde lang seine Theorien entwickelt. Solange er sprach, hatte er recht. Und wenn nachher der Eindruck fast unheimlicher Abstraktheit zurückblieb, so blieb doch auch derjenige der Reinheit und des intellektuellen Edelmutes.«

Freilich konnte der zu dieser Zeit politisch äußerst mangelhaft bewanderte Schriftsteller nicht richtig erkennen, mit welchem Phänomen er es hier zu tun hatte, doch hinterließ diese recht kurze Begegnung mit dem scharfsinnigen Theoretiker eine eher zwiespältige Impression. Einerseits stieß er auf eine wohl bis dahin nicht angetroffene argumentative Stringenz, andererseits verrät die von Mann angeführte »Unheimlichkeit« eine gewisse trotzkistisch-weltrevolutionäre Überspanntheit seitens Lukács. So lautet jedenfalls unsere These.

Dass Thomas Mann während dieses Gesprächs auf einmal in der besten Manier des deutschen Großbürgers in Panik vor aus den Steppen des weiten Ostens hervorpreschenden »roten Horden« geriet, kann man ausschließen, denn er beurteilte – zumal nach seinen peinlichen Fauxpas in den 1910er Jahren (z.B. »Betrachtungen eines Unpolitischen«, 1918) – die bolschewistische Oktoberrevolution durchaus gelassener und sogar mit einer bestimmten tolstoischen Zuversichtlichkeit als die Mehrzahl der Leute seiner Klasse.

Nein, was man den Mannschen Tagebuch-Zeilen von 1922 indirekt entnehmen kann, das ist der noch zu dieser Zeit bei Lukács vorherrschende messianische Marxismus – nicht ungewöhnlich für einen konvertierten Sohn der Bourgeoisie. Der durch Mann bereits in die Literaturgeschichte eingegangene Revolutionär Lukács wurde sich dieser eher irrationalistischen Neigung in seinem politischen Denken jedoch sehr schnell bewusst und verstand es, die messianischen Züge konsequent abzustreifen, anders als sein langjähriger Weggefährte und Kollege Ernst Bloch, der zeitlebens mit den Kategorien »Hoffnung« und »Furcht« arbeitete und so in seinem ureigenen semi-aufgeklärten Mystizismus verharrte.

Der besprochene Wesenszug in Lukács’ Philosophie Anfang der 20er Jahre lässt sich zum Teil noch in seinem berühmten marxistischen Erstlingswerk »Geschichte und Klassenbewußtsein« (1923) wiederfinden. Die positiven Seiten der Essaysammlung überwiegen allerdings, vor allem rechnet Lukács in seinem klassenkämpferischen Debütopus mit der opportunistischen und verräterischen Haltung der II. Internationale während des 1. Weltkrieges ab.

Er klärt demzufolge über das Scheitern revisionistischer Experimente auf und unterstreicht unbeirrt die Bedeutung des philosophischen Werks von Marx für das Schick-sal der Arbeiterbewegung, womit er sowohl die bürgerlichen Strömungen der besagtenimperialistischen »Kettenhund-Vereinigung« als auch den starren positivistisch-undialektischen Marxismus kritisiert.

Eine Missdeutung wäre es, zu behaupten, Lukács sei in seiner frühen kommunistischen Kampfphase Trotzkist gewesen – dafür war er zu wenig mit der bilderstürmerisch-utopischen Ideenwelt Leo Trotzkis vertraut –, doch lassen sich in »Geschichte und Klassenbewußtsein« bestimmte maximalistische, phantastische, letzten Endes vereinzelte typisch linksradikalistische Züge erkennen, welche die leninistische Dialektik von Taktik, Strategie und Endziel verkennen und bei praktischer Umsetzung die proletarischen Klasseninteressen aufs Spiel setzen könnten – die berühmt-berüchtigte »Kinderkrankheit« (Lenin) des Kommunismus also.

Nach dem Aufstieg des Horthy-Faschismus in Ungarn – nur knapp entging Lukács einer Auslieferung an das verbrecherische Regime –, siedelte er mit seiner Familie von Wien nach Moskau über, wo er 1930 als Mitarbeiter im Marx-Engels-Institut engagiert wurde. In der Hauptstadt der Sowjetunion fand er ideale Arbeitsbedingungen vor, verstärkt konnte er sich wieder seinen literaturwissenschaftlichen Studien widmen.

In diesem Zeitraum entstanden jedenfalls die wohl besten Arbeiten Lukács’ zur deutschen Literatur. Auch im bürgerlichen Lager werden seine Untersuchungen aus dieser Epoche zu Goethe, Schiller, dem deutschen Idealismus und Realismus bis heute geschätzt.
In politischer Hinsicht entwickelte er Ende der 20er Jahren in den berühmt gewordenen »Blum-Thesen« die antifaschistische Volksfront-Strategie – ein von der kommunistischen Arbeiterbewegung geleitetes antifaschistisches Bündnis unter Anteilnahme kleinbürgerlicher, sozialdemokratischer und z.T. auch antireaktionärer, aufgeklärter bourgeoiser Elemente –, die indes erst auf dem VII. Weltkongress der Komintern Zuspruch fand und welche nach dem Sieg über den Hitlerfaschismus in seinem Heimatland Ungarn in einer ersten Phase angewandt werden sollte.

Tatsächlich fußt dieser rein politische Entwurf, der zwar von Anfang an als Übergangslösung konzipiert war, in gewisser Weise ebenfalls auf seinen literarisch-künstlerischen Anschauungen, auf Lukács’ marxistischer Ästhetik demnach. In jener Zeit verfasste Georg Lukács auch das Werk, das an dieser Stelle besonders interessieren soll, zum einen aus reinem Jubiläumsgrund – 55 Jahre ist es her, dass die gemeinte philosophiegeschichtliche Abhandlung in erster Auflage erschien –, zum anderen aus ideologiekritischen Ursächlichkeiten.

2. Wider den zündelnden Irrationalismus

Kritik der philosophischen und sozialdemokratischen Imperialismus-Apologetik

»Was ihr den Geist der Zeiten heißt, - Das ist im
Grund der Herren eigner Geist, - In dem die Zeiten
sich bespiegeln«
Goethe, Faust I

Irrationale Mythosstrickerei im Zeitalter des Imperialismus – es gab wohl keinen feinsinnigeren marxistisch-leninistischen Entlarver derselben als Georg Lukács. Welchen Empörungsschrei löste Lukács’ »Die Zerstörung der Vernunft« seinerzeit in der westlichen Universitätsphilosophie und zum Teil auch bei den so furchtsamen, nicht selten in kleinbürgerlichen Denkschemata verharrenden »Kritischen Theoretikern« aus!
Das von bürgerlichen Gelehrten in dumpf-dreister Manier gebrauchte Prädikat »totalitär« war wieder schnell zur Hand, wenn es um die Beurteilung des marxistischen philosophiegeschichtlichen Werks ging. Desgleichen Theodor W. Adorno, Kopf der Kritischen Theorie und eifriger Lukács-Leser, der sich in besonderem Maße über Lukács’ Abfertigung von Friedrich Nietzsche erboste.

Was war passiert? Lukács hatte es gewagt, die Systeme bzw. Anti-Systeme der Säulenheiligen der deutschen Philosophie einer radikalen marxistischen Kritik zu unterziehen. Dass die deutsche Philosophie- und Theoriegeschichte – in diesem Kontext spricht Georg Lukács von der Philosophenlinie Schelling-Schopenhauer-Nietzsche-Jaspers-Heidegger – in die faschistischen, trivialphilosphischen Quacksalbereien und irrationalen Mythenkonglomeraten eines Ernst Jünger, Ludwig Klages, H.S. Chamberlain und schließlich Alfred Rosenberg münden sollte, empfand der ungarische Denker nicht als Überraschung.

Bien au contraire, er betrachtete es als erschütternden Tiefpunkt einer regressiven »Entwicklung«, die darin bestand, den aufklärerischen (und damit freilich auch den marxistisch-hegelianischen) Vernunftbegriff immer mehr zu zersetzen. In »Die Zerstörung der Vernunft« moniert Lukács in erster Linie die Destruktion der aufklärerischen Vernunft und Traditionen, die von den deutschen Philosophen, die vornehmlich aus der Schule des subjektiven Idealismus hervorgegangen waren, betrieben wurde.

Am fanatischsten kappte Friedrich Nietzsche, insbesondere in seinem Spätwerk, die Wurzeln zum (christlichen sowie atheistischen) Humanismus und zur Aufklärung. Den Wahrheitsbegriff ersetzte er durch einen (in letzter Konsequenz) dogmatischen Relativismus, er diskreditierte das wissenschaftliche Denken, polemisierte gegen politisch-ethische Maximen und spie in seinen Aphorismen Gift und Galle gegen die republikanische Trias »liberté, fraternité, égalité«.

An die Stelle der Wahrheit inthronisierte er den Mythos, die »erfundene Wahrheit«, ein höchst irrationales Unterfangen, mit dem das Leben in den schönen Schein transzendiert und revitalisiert werden sollte (»... denn nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt«). Der Pfarrerssohn beließ es aber nicht bei einer reinen Artistik-Konzeption. Aus seinen letzten Schriften dröhnt uns teilweise bestialisches Gequieke entgegen.

Nietzsche konzipiert aus seinem Ekel heraus – der Degout gegenüber der christlich-bürgerlichen Moral, den unwürdigen Lebensverhältnissen, dem vorherrschenden Kunstverständnis und den politischen Zuständen in Europa – eine katastrophal hemmungslose Herrenmoral. Ihm schwebt dabei eine nach dem Muster von Platons »Politeia« gestaltete Sklavenhaltergesellschaft vor, in der nur einer kleinen, aus dem allgemeinen Existenzkampf hervorgegangenen »Künstler«-Elite – die »Übermenschen« ... – das Recht zugestanden werden könne, neue Werte zu schaffen und die Welt frei nach ihren spielerisch-ästhetischen Bedürfnissen zu gestalten bzw. einzurichten. Sieht so apollinisches Menschentum aus?

Nietzsches anarchische Entmenschungsphilosophie führt an und für sich zu reinem épater-le-bourgeois, ein konkretes gesellschaftspolitisches, praktisches Programm hat er nicht entwickelt. Dennoch, das Fundament ist gelegt, der Umschlag in eine Ästhetisierung der Politik, in einen faschistischen Aktivismus, in Mordbrennerei gar – auf Basis dieses Gedankengemischs – ist möglich, denn im Keim ist Letzteres zutiefst reaktionär. Man denke nur an den neurotischen und bereits völlig von der Hybris ergriffenen (noch recht) jungen Nietzsche – es handelt sich hierbei also nicht um den geistig umnachteten Nietzsche, sondern um den sogenannten »freigeistigen« aus den 1870er Jahren –, der den Sozialismus in »Menschliches, Allzumenschliches I« als den »phantastischen jüngeren Bruder des fast abgelebten Despotismus« verteufelt.

Jemand, der solch irrationale, unbestreitbar protofaschistische Ideologeme, derartige Invektiven mit ironiefreier, gleichsam hysterischer Inbrunst verkündet, darf auch mal als »Großnarr« abgefertigt werden, wie dies Peter Hacks in seinem literarischen Pamphlet »Zur Romantik« getan hat (»... Nietzsche ganz Freigeist und ganz Totschläger ...«) – eine Bewertung, über die sich das bürgerliche Feuilleton (vor allem in unserer Zeit) bis zur Weißglut ärgern kann. Difficile est satiram non scribere.
In politisch-philosophischen Fragen kann Nietzsche kein Gewährsmann sein, in poetischen schon. Der deutsche Universalgelehrte Hans Heinz Holz, einer der ausgezeichnetesten Lukács-Schüler (im weitesten Sinne), bringt es in seinem Nietzsche-Essay auf den Punkt: »Nietzsches Geniekult ist nur ein Ersatz für eine verlorene Gesinnung und Gesittung, die allein das Zusammenleben der Menschen möglich macht, gemäß jenen drei Grundsätzen der Aufklärung, die Leibniz auf die Formel brachte: suum cuique tribuere, omnes adiuvare, honeste vivere. Der Geniebegriff des jungen Nietzsche, der schon den Immoralismus des späteren einschließt, ist eine Absage an die aufklärerischen, humanistischen, demokratischen Ideale.«

Die Rationalitätskritik und Mythosemphase radikalisierte sich nach Nietzsche derart, dass (prä-)faschistische Ideologen à la Sorel, Baeumler, Chamberlain und Rosenberg, wie bereits erwähnt, ohne Schwierigkeit Anknüpfungspunkte finden konnten. Zweifelsohne, das Gros der bürgerlichen Intellektuellen und Universitätsphilosophen Deutschlands war zu Beginn der 1930er Jahre nicht direkt faschistisch eingestellt, doch die unreflektierte Absorption der irrationalistisch angehauchten deutschen Willens- und Lebensphilosophie sowie der latente Hass auf die Moderne hatten sie nicht gerade immun gegen die menschenverachtende Trivialphilosophie des Faschismus gemacht.
Georg Lukács’ Abrechnung mit dem Vernunftskeptizismus hat in den philosophischen Schulen der Nachkriegszeit tiefe Spuren hinterlassen. Noch heute können sich die poststrukturalistisch-dekonstruktivistischen Epigonen in ihren Publikationen herablassende Bemerkungen zur »Zerstörung der Vernunft« bzw. wüste Lukács-Beschimpfungen nicht verkneifen. Man möchte sich schließlich nicht das Operieren mit den tiefenpsychologischen und irrationalen Philosophemen Nietzsches verbieten lassen. Die Sehkraft auf dem rechten Auge scheint dabei aber äußerst getrübt zu sein.

In einer nietzscheanischen Traditionslinie stehend wird nicht selten dem relativistisch-pseudopluralistischen, letztlich aber sozialdarwinistischem Liberalismus und der Antiwissenschaftlichkeit (mit moralisch-metaphysischem Akzent) das Wort geredet. Kurzum: Postmoderne Philosophen entpuppen sich häufig als intellektuelle Philister, die sich in den Solipsismus, die Anonymität und die Verantwortungslosigkeit flüchten.

Lukács’ Begriff von der »Ideologie des Katzenjammers des Individualismus der imperialistischen Epoche« könnte man auch auf diverse poststrukturalistische Theoriegebäude anwenden. Was hier besungen wird, ist in zahlreichen Fällen nichts anderes als die Fetischisierung der Nichtigkeit bzw. Verlorenheit des Individuums ins Zeitlose und Gegenständliche. Kleinmütig-uneinheitliches Denken statt sogenannter »großer Erzählungen« (Lyotard), das ist die ausgegebene Losung. Es ist ein Spiel mit der menschlichen Verzweiflung, oftmals vorgetragen in der Pose des Über-allem-Stehenden.

Die Lektüre von Georg Lukács’ Werk lohnt nicht nur, um Entscheidendes über die irrationalen Phänomene in der Ideengeschichte bzw. in der heutigen Kulturindustrie zu erfahren. Bei Lukács kann man ebenfalls nachlesen, wie pflichtgetreu die herrschende europäische Sozialdemokratie die angesprochene Harlekin-Funktion am Hofe der jeweiligen nationalen monopolkapitalistischen Raubritter seit 1914 erfüllt hat.
Schlimmer noch, sich auf die fatale Theorie der »realpolitischen Vernünftigkeit« berufend, sind die meisten sozialdemokratischen Parteien Europas im Laufe der letzten 95 Jahre – bei einigen raren Unterbrechungen und Ausnahmen – zu willfährigen Exekutoren der Vorstellungen des Großkapitals mutiert. Die postsowjetische Ära, das ist bislang eine Zeit des ungebremsten US-amerikanischen sowie europäischen Imperialismus und eine Zeit, in der zahllose soziale Errungenschaften in den westlichen Industriestaaten zerschlagen worden sind – leider unter tätiger Mithilfe der Sozialdemokratie.
Georg Lukács’ Analyse der sozialdemokratischen Politik der 1920er, 30er und 50er Jahre liest sich gewissermaßen wie ein Kommentar zur heutigen Ideologie der die Klassengesellschaft totschweigenden »Sozialpartnerschaft«, der neuen sogenannten »realpolitischen Vernünftigkeit« also, mit der die Streikbereitschaft der arbeitenden Bevölkerung zum wiederholten Male gebrochen werden soll.
Keinesfalls wird das US-amerikanische und europäische Monopolkapital die gegenwärtige kapitalistische Weltkrise dazu nutzen, um den arbeitenden Menschen materielle Zugeständnisse zu machen oder um das Ausbeutersystem zu »humanisierien«. Im Gegenteil, wenn es sein muss, könnte auf brutale Gewaltmethoden zurückgegriffen werden zwecks Zementierung der aktuellen Besitzverhältnisse.

Wir wissen hoffentlich alle, dass das Großkapital in Deutschland im Verlauf der verheerenden Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre dank einer höchst geschwächten Arbeiterklasse auf die Hitler-Faschisten rekurrieren konnte, um das kapitalistische System zu konsolidieren und später den deutschen Imperialismus – mit den bekannten Folgen – zügellos-barbarisch zu radikalisieren. Näheres dazu bei Lukács, »Die Zerstörung der Vernunft«:

»Seit die Sozialdemokratie regierende Partei geworden ist, herrscht in ihr, in ihrer Propaganda und vor allem ihren Taten, diese ,realpolitische Vernünftigkeit’. Diese Propaganda mischte sich in den ersten Revolutionsjahren mit demagogischen Versprechungen der baldigen Sozialisierung, der Verwirklichung des Sozialismus auf diesem ,vernünftigen’ Weg, im Gegensatz zu dem ,unvernünftigen’ Abenteurertum, zur ,irrealen Kata-strophenpolitik’ der Kommunisten.
Die ,relative Stabilisierung’ macht die Herrschaft der Bernsteinschen Vernunft in Theorie und Praxis des Reformismus zu einer absoluten. Und die Linie dieser ,realpolitischen Vernünftigkeit’ wurde in der Epoche der großen Weltwirtschaftskrise vom herrschenden Reformismus mit eiserner Energie aufrechterhalten.

,Vernunft’ bedeutet also praktisch für die Massen: bei Lohnherabsetzung nicht zu streiken, sondern sich dieser zu fügen; bei Verminderung der Arbeitslosenunterstützung, bei Ausscheidung immer größerer Massen aus dem Kreis der Unterstützungsberechtigten sich jeder Demonstration, jedes energischen Schrittes zu enthalten; vor den blutigsten faschistischen Provokationen auszuweichen, sich zurückzuziehen, die Kraft der Arbeiterklasse, ihre Beherrschung der Straße nicht zu verteidigen, sondern, wie Dimitroff diese Politik richtig charakterisierte, der Gefahr so zu entgehen, daß man die Bestie nicht reizt.«

*Alain Herman ist Kandidat der KPL im Bezirk Norden für die Abgeordnetenkammer

Alain Herman*