Putin macht Gaspreis zur Chefsache
Nächster EU-Gipfel soll Maßnahmen gegen explodierende Energiekosten beraten. Moskau weist Vorwurf der Preistreiberei zurück
Beim nächsten EU-Gipfel am 21. und 22. Oktober in Brüssel soll das Thema Gaspreise auf der Tagesordnung stehen. Der Druck auf Wirtschaft und Privatverbraucher durch rapide steigende Energiekosten ist inzwischen hoch genug – die Staats- und Regierungschefs müssen zumindest verbal reagieren. Ob es dabei auch zu einer selbstkritischen Analyse der bisherigen Energiepolitik des Staatenbundes und der sich bekämpfenden Lobbygruppen reicht, scheint jedoch zweifelhaft.
Fakt ist, daß die Preise für Erdgas rasant angestiegen sind und der Trend weiter nach oben zeigt. So vermeldete die französische Nachrichtenagentur AFP unter Bezugnahme auf das Internetvergleichsportal Verivox Anfang vergangener Woche, deutschen Haushalten stehe eine teure Heizsaison bevor. Teils werde bis zu 87 Prozent mehr Geld fällig. Auch die deutschen Verbraucherzentralen warnen: »Es drohen Energiepreise des Grauens«, sagte der Chef ihres Bundesverbandes, Klaus Müller, der »Augsburger Allgemeinen« (Freitagausgabe).
Einige EU-Staaten haben bereits reagiert und wollen entweder die Teuerung (mit Steuergeldern) deckeln, wie das Frankreichs Regierung bereits im September angekündigt hatte, oder fordern wie Spaniens Premier Pedro Sánchez Anfang des Monats die Bildung eines Nachfragemonopols durch die komplette EU. Und immer wieder wird von Akteuren aus dem Umfeld der EU-Kommission unterstellt, Rußland sei für die Verknappung verantwortlich.
Dabei ist die Entwicklung kaum überraschend. Mehrere große sozialökonomische Trends bzw. Interessengruppen treffen hier aufeinander, das Geschehen wird zum Teil in absurder Weise verschärft. Aktivitäten im Rahmen des Klimaschutzes – der Kohleausstieg, generell die Verringerung der Nutzung fossiler Energieträger – haben dazu geführt, daß die Fundamente der Energieversorgung umgebaut werden. Und wie üblich in der EU geschieht das nicht auf die geschickteste Weise. So beklagen Politiker einerseits die Tatsache, die Gasspeicher in Deutschland seien nur bis zu zwei Dritteln gefüllt.
Andererseits ist die Rechtslage inzwischen so, daß beispielsweise die Lobbyorganisation Deutsche Umwelthilfe die Öl- und Gaskonzerne Wintershall und Dea mit einer »Klimaklage« zwingen will, die Gas- und Ölförderung zu verringern, wie vergangene Woche gemeldet wurde. Auch in Brüssel dürfte bekannt sein: Politischer und rechtlicher Druck auf Konzerne mindert deren Profitaussichten. Sie wandern im Ernstfall ab oder investieren anderswo. Wo im Winter der Brennstoff für frierende Einwohner herkommt, ist dann nicht mehr ihr Problem.
Noch gravierender wirkt sich die Politik der (vermeintlichen) Stärke gegenüber Ländern wie Rußland aus. Die Angewohnheit der EU, Wirtschaftssanktionen gegen einen der wichtigsten Lieferanten von Gas und Öl zu verhängen, ist ökonomisch absurd. Dennoch hat eine Mehrzahl der EU-Staaten unter der Anleitung Washingtons aktiv versucht, auch die Ostseegasleitung Nord Stream 2 zu verhindern. Trotz Fertigstellung des Milliardenprojekts wurden die Attacken bis heute nicht aufgegeben.
Politiker sind in der Regel keine Genies, wissen aber: Wenn ich Mist baue, braucht es einen, dem ich die Schuld zuweisen kann. Vermutlich deshalb tönte der ehemalige »Spitzenkandidat« für den EU-Chefposten und heutige Fraktionschef der konservativen EVP, Manfred Weber, via »Bild«: Der »größte Gewinner eines kalten Winters in Europa« werde Rußlands Präsident Wladimir Putin sein. »Um unsere Macht gegenüber den Russen zu stärken, sollten wir uns auf ein europäisches Konzept für die Beschaffung von Gas und Öl einigen.«
In Moskau sieht man das zwar gelassen, aber nicht ganz ohne Sorge. »Die explodierenden Gaspreise und die Angriffe aus der EU gegen die Gasgroßmacht Rußland« seien für Putin seit Tagen Chefsache, berichtete die Agentur dpa am Freitag. Allerdings wies man Vorwürfe des Westens vehement zurück. Schuld an den hohen Preisen sei nicht Rußland, sondern die Lage auf dem Weltmarkt – und eine verfehlte Energiepolitik der EU, betonte der Präsident laut des dpa-Berichts. Trotz Warnungen sei die EU von Langzeitverträgen abgerückt und zum Handel an den Energiebörsen übergegangen. »Heute ist klar, daß diese Politik ein absoluter Fehler ist.«
Nord Stream 2 wurde seit Anfang vergangener Woche probeweise mit Gas befüllt, um die Funktionalität und Sicherheit der Pipeline zu überprüfen, wie dpa meldete. Eine schnelle Inbetriebnahme könnte die Sorgen vor zuwenig Gas im Winter zumindest verringern. Allerdings laufe bei der in Deutschland zuständigen Bundesnetzagentur noch ein Zertifizierungsverfahren. Darin gehe es darum, die Nord Stream 2 AG gemäß einer EU-Richtlinie als »unabhängigen Transportnetzbetreiber« anzuerkennen.