Ausland15. Januar 2022

Die Militärdoktrin der EU

Außen- und Militärminister der Europäischen Union legen letzte Hand an den »Strategischen Kompaß« der EU

von German Foreign Policy

Ernste Rückschläge für die ehrgeizige Außen- und Militärpolitik der EU haben die jüngste Debatte der Außen- und Militärminister am Donnerstag und Freitag im westfranzösischen Brest über die künftige EU-Militärdoktrin überschattet. Der »Strategische Kompaß«, über den auf dem Treffen verhandelt wurde, soll künftig die weltpolitischen Aktivitäten der EU steuern; seine Verabschiedung ist für Ende März vorgesehen.

Das Dokument, auf geheimdienstlicher Grundlage entwickelt, legt eine scharfe Positionierung gegen Rußland und eine häufigere Entsendung von Kriegsschiffen in den Indischen und den Pazifischen Ozean fest; zudem ist der Aufbau einer neuen, 5.000 Soldaten umfassenden Eingreiftruppe vorgesehen.

Auf geheimdienstlicher Grundlage

Der »Strategische Kompaß« geht letztlich auf einen Vorstoß der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2019 zurück. Ziel ist es, die bereits 2016 verabschiedete »Globale Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik« der EU, wie die regierungsnahe Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in einer aktuellen Analyse schreibt, »im Sinne einer Militärdoktrin« zu konkretisieren. Praktisch begonnen wurde die Arbeit an dem Dokument in der zweiten Jahreshälfte 2020 unter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft.

Der erste Schritt bestand darin, eine »Bedrohungsanalyse« zusammenzustellen. Damit waren die Geheimdienste der EU-Mitgliedstaaten und die EU-Geheimdienstzentren EU IntCen (European Union Intelligence and Situation Centre) sowie EUMS INT (European Union Military Staff Intelligence Directorate) befaßt. Der »Strategische Kompaß« beruht also im Kern auf einem Geheimdienstpapier, das abseits öffentlicher Beobachtung, geschweige denn demokratischer Kontrolle, erstellt worden ist. Auf seiner Grundlage hat die EU-Kommission strategische Leitlinien entwickelt, über die sich die Außen- und Militärminister der EU zum ersten Mal am 15. November 2021 in Brüssel ausgetauscht haben. Danach wurden Ergänzungen eingearbeitet; sie waren am Donnerstag Thema der Debatte der Außen- und Militärminister.

Die Rückkehr der Machtpolitik

Einer detaillierteren Analyse hat den Entwurf für den »Strategischen Kompaß« nun die SWP unterzogen. Wie die Berliner Denkfabrik konstatiert, unterscheidet sich der »Kompaß« von der »Globalen Strategie« der EU besonders dadurch, daß er nicht – wie diese – vorrangig auf »soft power« setzt, sondern stattdessen eine »Rückkehr der Machtpolitik« in den Mittelpunkt der Planungen stellt. Ausgangspunkte der Strategiebildung, hält die SWP fest, seien einerseits die »zunehmende Bipolarität zwischen den Vereinigten Staaten und China«, andererseits eine »multipolare Dynamik«, die darin bestehe, daß »eine wachsende Zahl« von Staaten versuche, »ihren jeweiligen politischen Einflußbereich zu erweitern«.

Dies bezieht sich nicht nur auf Rußland, das seine Positionen in den vergangenen Jahren zum Teil wieder ausbauen konnte, sondern zum Beispiel auch auf die Türkei, die eine expansive Außenpolitik verfolgt. Zugleich habe man einzuräumen, schreibt die SWP, daß »Europas wirtschaftliche und demographische Bedeutung in der Welt« sinke. Wolle man dem entgegenwirken, dann habe man erhebliche Anstrengungen in Kauf zu nehmen – denn die globale Rivalität beziehe mittlerweile längst sämtliche Dimensionen ein. Heute seien »nicht nur die Meere, sondern gleichfalls der Weltraum und die Cybersphäre zunehmend umkämpfte Gebiete«.

Marinepatrouillen, Schnelle Interventionstruppe

Erste konkrete Elemente aus dem »Strategischen Kompaß« wurden bereits im November bekannt. Demnach nimmt das Dokument gezielt Rußland und China ins Visier. Zu Rußland heißt es, dessen »Handlungen in unserer gemeinsamen Nachbarschaft und an anderen Schauplätzen« widersprächen klar »der Weltsicht der EU und ihren Interessen«. Laut bisher bekannten Informationen ist jetzt zusätzlich eine Passage in den »Kompaß« aufgenommen worden, die vorsieht, mit der Ukraine, Georgien und Moldawien »spezifische Dialoge ... in Bereichen wie der Bekämpfung hybrider Bedrohungen, Desinformation und Cybersicherheit« zu verstärken.

Mit Blick auf China sieht das Dokument zwar weiterhin Wirtschaftskooperation vor, dringt allerdings auch darauf, die militärische Präsenz der EU im Indischen und Pazifischen Ozean, also im unmittelbaren Umfeld der Volksrepublik, bis 2023 deutlich zu verstärken, etwa mit regelmäßigen Marinepatrouillen und -manövern. Insbesondere mit Blick auf eventuelle Militäreinsätze in Nachbarländern der EU ist der Aufbau einer »Schnellen Interventionstruppe« (»EU Rapid Deployment Capacity«) geplant, die bis zu 5.000 Soldaten umfassen und in kürzester Zeit einsetzbar sein soll. Nicht zuletzt wird »die strategische Partnerschaft« mit der NATO als »von wesentlicher Bedeutung« eingestuft; es gelte, heißt es, sie »zu stärken«.

Eine »Weihnachtsbaum-Strategie«

Sehr skeptisch beurteilt den »Strategischen Kompaß« nun die SWP. Das Papier erwecke den Eindruck, die Mitgliedstaaten hätten »in unverbundener Weise alle Anliegen« in ihn gepackt, »die ihnen besonders wichtig waren«, schreibt die Denkfabrik: Es handle sich um eine »Weihnachtsbaum-Strategie«, die »den Realitäten vor Ort nicht gerecht« werde und außerdem »keinen strategischen Fokus« habe. Zum einen würden die zahlreichen strategischen Ziele in dem Dokument »nicht eindeutig priorisiert«; zum anderen sei nicht erkennbar, wie der bislang »fehlende politische Wille« für eine energische gemeinsame Außenpolitik geschaffen werden solle.

So sei unklar, wieso ein Einsatz der »EU Rapid Deployment Capacity« möglich sein solle, nachdem es 15 Jahre lang kein einziges Mal gelungen sei, mit den bereits seit 2007 voll einsatzfähigen »EU Battlegroups« zu intervenieren. Darüber hinaus blieben beträchtliche Zweifel an der Handlungsfähigkeit der EU. So seien seit Ende 2017 zwar 60 »PESCO«-Projekte zum Ausbau der Militärkooperation gestartet worden; doch werde wohl »bestenfalls ein Drittel der Projekte ... tatsächlich umgesetzt«. Der »Strategische Kompaß« sehe nun mehr als 40 Einzelziele vor, die bis 2030 realisiert werden sollten; wie das vor dem Hintergrund des Scheiterns bei der »Permanenten Strukturierten Kooperation« (Permanent Structured Cooperation, »PESCO«) erreicht werden solle, sei nicht klar.

Von Rückschlägen überschattet

Das jüngste Treffen der Außen- und Militärminister, bei dem der »Strategische Kompaß« wohl abschließend behandelt wurde – er soll auf dem EU-Gipfel am 24./25. März verabschiedet werden –, stand unter dem Schatten mehrerer gravierender Rückschläge für die ehrgeizige Außen- und Militärpolitik der EU. So ist die Union, deren deutsche Vormacht bis vor kurzem die formelle Führung über die Gespräche im »Normandie-Format« zur Beilegung des Ukraine-Konflikts innehatte, jetzt von den Gesprächen zwischen Rußland und den USA ausgeschlossen; die Einbindung der meisten EU-Staaten in die NATO-Verhandlungen zu dem Thema habe »lediglich symbolische Bedeutung«, urteilt ein Experte der SWP. Damit werden Entscheidungen von hoher Bedeutung für die Weltpolitik ohne Beteiligung Berlins und Brüssels getroffen.

Hinzu kommt, daß die EU aktuell in Afrika Einfluß an Moskau verliert. So steht seit einiger Zeit der Einsatz der deutschen Bundeswehr, der Luxemburger Armee und weiterer Streitkräfte aus Europa in Mali zur Debatte, während dort russische Militärausbilder eintreffen und teilweise französische Soldaten ersetzen. Rückschläge mußten Berlin und Brüssel schon zuvor in anderen Ländern hinnehmen, so etwa in Syrien oder in Libyen. Ob es der EU gelingen kann, mit dem »Strategischen Kompaß« das Ruder herumzureißen und ihre ehrgeizige Weltpolitik zum Erfolg zu führen, ist ungewiß.