Ausland24. Juli 2024

Eine Fähigkeitslücke

von Arnold Schölzel

Im westlichsten russischen Gebiet Kaliningrad leben auf einer Fläche von 15.125 Quadratkilometern – etwa die sechsfache von Luxemburg – rund 1,03 Millionen Einwohner (knapp doppelt so viele wie in Luxemburg). Das Gebiet hat Zugang zu den internationalen Gewässern der Ostsee und grenzt auf Land an die EU- und NATO-Staaten Polen und Litauen.

Seit Jahren phantasiert die NATO über die sogenannte Suwalki-Lücke, die sich vom Dreiländereck Litauen–Polen–Rußland (Oblast Kaliningrad) in der Nähe der polnischen Stadt Suwalki nach Südosten bis zum Dreiländereck Litauen–Polen–Belarus über etwa 65 Kilometer Luftlinie erstrecke: Hier könne Rußland die drei baltischen Staaten vom übrigen NATO-Territorium im Handstreich trennen, wird in NATO-Kreisen behauptet.

Auf ihrem Warschauer Gipfel beschloß die NATO im Juli 2016 zum einen die Rückkehr zur atomaren Erstschlags-Doktrin des Kalten Krieges, zum anderen, in Polen und den baltischen Staaten 4.000 Soldaten im Rotationsverfahren zu stationieren. So sollte die Suwalki-»Lücke« geschützt werden. Demnächst sollen nun allein in Litauen 4.000 deutsche Soldaten ständig stationiert werden. Die »Lücke« hat ausgedient.

Am Donnerstag vergangener Woche erwähnte aber der deutsche Kriegsminister Boris Pistorius (SPD) im Zusammenhang mit der angekündigten Stationierung weitreichender US-amerikanischer Waffen in der Bundesrepublik Deutschland in einem Interview mit der »Rheinischen Post« plötzlich wieder das Gebiet Kaliningrad: »Was die USA ab 2026 in Deutschland tun werden, ist nichts anderes, als der russischen Bedrohung durch die Stationierung der ›Iskander‹ in Kaliningrad etwas entgegenzusetzen.«

Pistorius zuvor: »Ich möchte aber klarstellen: Es handelt sich um konventionelle Waffensysteme. Wir tun alles dafür, daß eben keine Eskalation eintritt.« Letzterem widersprach Pistorius gleich selbst: »Wir haben beim NATO-Gipfel in Washington mit Polen, Frankreich und Italien – andere Länder könnten noch dazu kommen – eine Absichtserklärung unterschrieben, in der wir verabreden, gemeinsam weitreichende Präzisionswaffen selbst zu entwickeln, zu produzieren und zu beschaffen. Die USA helfen uns mit der Stationierung ihrer Systeme, den Zeitraum zu überbrücken, bis wir solcher Waffensysteme selbst haben.«

Soll wohl heißen: Unter deutscher Führung gebaute sogenannte Hochpräzisionsabstandswaffen, die auf Kaliningrad gerichtet werden, stellen keine Eskalation dar.

Noch am selben Tag hielt die russische Führung es für nötig, Pistorius zu antworten. In Moskau erklärte der stellvertretende russische Außenminister Sergej Rjabkow vor Journalisten laut Interfax auf die Frage, ob Rußland erwäge, im Gegenzug Atomraketen zu stationieren: »Ich schließe keine Varianten aus.«

Rjabkow erläuterte, durch Schuld Deutschlands und vor allem der USA sei es »zu einer völligen Zerstörung des Vertragssystems auf diesem Gebiet« gekommen. Das sei die Situation, in der Rußland »ohne irgendwelche internen Einschränkungen« reagieren müsse. Und was Kaliningrad angehe: Das Gebiet ziehe »seit langem die krankhafte Aufmerksamkeit unserer Gegner auf sich«. Seine Sicherheit werde aber so garantiert wie die jeder anderen Region der Russischen Föderation. Kaliningrad sei keine Ausnahme in Bezug auf »unsere absolute Entschlossenheit«, jene »zurückzudrängen, die möglicherweise aggressive Pläne hegen und versuchen, uns zu bestimmten Schritten zu provozieren«. Das seien offenbar auch Leute, »die in Berlin den Ton angeben«.

Der Schlagabtausch besagt: Pistorius bringt Kaliningrad als Ziel neuer Waffen ins Spiel. Moskau signalisiert: Achtung, das berührt existentielle Interessen.

Im Kopf des deutschen Ministers besteht eine Fähigkeitslücke, überhaupt zu begreifen, was er macht.