Leitartikel30. November 2021

Ende der Diplomatie

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Im Pentagon und im Brüsseler Hauptquartier der NATO läuten unüberhörbar die Kriegsglocken. Dazu mischen sich die Töne aus dem Kriegsministerium in Kiew, und in den Hauptstädten der NATO-Staaten bimmelt es ebenso. Die Melodie und der Text haben sich seit den finstersten Tagen des Kalten Krieges vor 70 Jahren kaum geändert: »Der Russe kommt!«.

Was ist passiert? Die üblichen Verdächtigen, also nicht genau genannte Geheimdienste, schlagen Alarm wegen einer angeblichen Konzentration russischen Truppen in der Nähe der Grenze zur Ukraine. Dort will man sogar das genaue Datum eines Angriffs der Russen kennen, allerdings scheinen der Präsident und sein Kriegsministerium unterschiedliche Informanten zu haben. Der frühere TV-Komiker Selenski verkündete am vergangenen Freitag, er habe »die Information erhalten, daß am 1. Dezember in unserem Land ein Staatsstreich stattfinden wird«. Seine Militärs wissen genau, daß Rußland einen Großangriff Ende Januar, Anfang Februar plane. Sogar die Aufmarschpläne der Russen sind bekannt. Fast könnte man meinen, sie seien in Kiew aufgemalt worden…

Die Reaktion des Westens erfolgte wie erwartet. Umfangreiche Lieferungen militärischer Ausrüstung aus den USA werden zwar von der Sprecherin des Präsidenten offiziell dementiert, aber sie wurden längst vereinbart, und das Pentagon liefert. In der Ukraine sind Ausbildungszentren der USA, der NATO und Britanniens aktiv, und das Kiewer Regime forciert die Angriffe auf die abtrünnigen Gebiete des Donbass. Aus den Hauptstädten der EU und der NATO verstärken sich die Rufe nach Sanktionen, und auch das »Luxemburger Wort« (Leitspruch: »Für Freiheit und Recht«) plädiert für »das Aus der Ostseepipeline Nord Stream 2«, denn das »würde Putin treffen«.

Aus dem »Wort«-Leitartikel vom Freitag kann man auch die Gründe für den ganzen Alarm herauslesen. Die Autorin meint, Putin nutze die schwierige Situation der EU – Stichworte: Pandemie, Druck von Impfgegnern, ausgebremste wirtschaftliche Erholung, steigende Inflation, Lieferengpässe, Unmut der Bürger, Migrationskrise… – um »den Westen« unter Druck zu setzen. Wenn man sich die Mühe macht, das in der richtigen Reihenfolge zu lesen, kommt ein ziemlich klares Bild zutage. »Der Westen« befindet sich in einer tiefen Krise, Lösungen scheinen nicht in Sicht, werden ignoriert oder sind unter den Bedingungen des Kapitalismus nicht anwendbar. In solchen Situationen haben kapitalistische Regime immer einen Ausweg in eskalierender Aggressivität nach außen gesucht, und mehr als einmal wurden daraus veritable Kriege.

Auf jeden Fall erhöhen sich durch die Kriegsglocken die Aussichten auf neue Profite für Banken und etliche Konzerne. Und dem Volk kann wieder einmal erklärt werden, daß man sich einschränken müsse, denn angesichts der drohenden Kriegsgefahr sind Kanonen allemal wichtiger als Butter und Brot.

Die Sprache der führenden Politiker deutet zudem wieder einmal auf ein Ende der Diplomatie hin. Wenn erfundene Tatsachen als Fakt dargestellt werden und den Umgang mit dem vermeintlichen Gegner bestimmen, übernehmen Generäle den Part der Diplomaten. Wenn zudem der NATO-Generalsekretär unisono mit der EU-Kommissionschefin über »hybride Angriffe« phantasiert und er dazu die Lüge verbreitet, der UNO-Vertrag über das Verbot von Atomwaffen richte sich gegen die Waffen der NATO, nicht aber gegen »die von China, Rußland und Nordkorea«, dann bleibt kaum noch eine Möglichkeit einer Verständigung.