Kultur20. Juli 2021

Tränen und Triumph in Cannes:

Goldene Palme für Horrorfilm einer Französin

von Aliki Nassoufis, Cannes

Das war wirklich überfällig. Mit dem Horrorfilm »Titane« gewinnt die Französin Julia Ducournau bei den 74. Internationalen Filmfestspielen Cannes die Goldene Palme – und ist in der Geschichte des Festivals damit die erst zweite Frau, deren Werk mit der Goldenen Palme geehrt wird. Das gelang zuvor nur der Neuseeländerin Jane Campion, die 1993 für »Das Piano« die höchste Auszeichnung bekam. Denkt man nun noch an den dreifachen Oscar-Erfolg für Chloé Zhaos »Nomadland« vor einigen Monaten, dann könnte dies endlich das Jahr der Regisseurinnen werden.

Bemerkenswert ist die Auszeichnung für die 37 Jahre alte Ducournau aber auch deswegen, weil ihr Film eine solche Herausforderung und Provokation ist. Im Mittelpunkt von »Titane« steht Alexia, die schon als Kind ihren eigenen Kopf durchsetzen will. Aus ihr wird eine selbstbewusste Frau, die nach ihren eigenen Regeln lebt. Sie ist aber auch eine Serienkillerin, die nach Sex mit einem Auto schwanger wird und sich später als Mann ausgibt, um der Polizei zu entkommen.

Er habe in seinem Leben schon viele Filme gesehen, sagte Jury-Präsident Spike Lee nach der Preisverleihung am Samstagabend. »Dies ist aber der erste Film, in dem ein Cadillac eine Frau schwängert. Das hat mich umgehauen. Das sind Genie und Verrücktheit kombiniert.«

Tatsächlich fasziniert »Titane« mit seiner wilden Mischung aus Horror und Fantasie, mit dem Zersprengen von Geschlechterrollen, der Kritik an stoischer Männlichkeit und dem Feiern von weiblicher Stärke. Blut spritzt, Motoröl tropft aus prallen Brüsten und im Rhythmus des Hit-Songs »Macarena« wird jemand wiederbelebt: Bizarrer, unerschrockener und energiegeladener geht es kaum. Völlig zu Recht wurde Ducournau nach der Preisverkündung mit minutenlangen Standing Ovations gefeiert - und musste unter Tränen erst einmal um Fassung ringen.

Trotz ihres großen Triumphs stahl ihr allerdings Spike Lee fast die Show. Denn der 64-Jährige war nicht nur der erste schwarze Präsident einer Cannes-Jury. Der Regisseur verriet den Gewinnerfilm versehentlich auch viel zu früh. Als ihn die Moderatorin zu Beginn der Abschlussgala auf Französisch fragte, welches der erste Preis sei, der verkündet werden solle, antwortete der US-Amerikaner: »Der Film, der die Goldene Palme gewonnen hat, ist "Titane"« – die anderen Jurymitglieder zuckten sichtbar zusammen, ließen sich aber sonst wenig anmerken. Erst später, als dann wirklich die Goldene Palme verkündet war, wurde klar, dass Lee zuvor etwas voreilig gewesen war.

Zu den Gewinnern des diesjährigen Festivals zählt außerdem die Norwegerin Renate Reinsve. Die 33-Jährige wurde bereits nach der Premiere von Joachim Triers »The Worst Person in the World« gefeiert, der auf originelle Weise von den Lebens- und Liebeswirren einer jungen Frau berichtet, und nahm am Samstag – ebenfalls unter Tränen – die Auszeichnung als beste Schauspielerin entgegen.

Ein Großer Preis der Jury, die zweitwichtigste Auszeichnung des Festivals, ging an »Hytti No 6«, in dem der Finne Juho Kuosmanen von einer ungewöhnlichen Zugreise durch Russland erzählt. Der Thailänder Apichatpong Weerasethakul, der mit »Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben« einst eine Goldene Palme gewann, wurde für seinen meditativen Bilderfluss »Memoria« mit einem Preis der Jury geehrt.

Mit ihren Entscheidungen würdigte die Jury weniger politische oder gesellschaftskritische Werke, sondern legte Wert auf cineastische Visionen und Filme mit einer eigenen Handschrift. Von denen hatte es im Wettbewerb einige gegeben, immerhin war der mit 24 Beiträgen voller als andere Jahrgänge. Nicht alle konnten dabei überzeugen, letztendlich aber sorgte die offizielle Auswahl für zahlreiche Stars auf dem roten Teppich - und machte zugleich klar: Nach langer Corona-Pause meldet sich die Filmbranche endlich wieder zurück.

(dpa)