Kultur

Aphorismen (LXXIX)

»Vanitas…«

– Es gibt Putzfrauen, die in ihrer Sorge für den Alltag mehr Sinn für Ästhetik zeigen als selbstbewusste Kunstkritiker.
– Lieber nach dem eigenen Willen sterben, als nach dem Willen eines Bischofs oder Papstes.

– Eine »bessere Dame« spricht : »Meine Kinder sind alle ETWAS GEWORDEN : Arzt, Lehrer, Anwältin. Auch die Kinder meiner Freundin sind alle ETWAS GEWORDEN…« Frage : »Und warum sind sie dann alle so beschränkte Esel geblieben ?« 

– Die wirklichen Verräter sitzen einem immer am nächsten.

– Heute muss man schon fast Schriftsteller sein, um sich herabzulassen, einen Brief zu schreiben.

– Wenn man sich in einer schwierigen Lebenslage befindet, können die Erinnerungen an bessere Tage wie ein Medikament wirken. Die heilsame, vielleicht auch heilende Wirkung : Distanzierung von der Gegenwart, als würde diese von den Erinnerungen überschwemmt und weggespült.

– Alte Leute haben die Tendenz, gleichaltrige Bekannte oder Verwandte wieder öfter zu treffen, als wollten sie mit ihnen schon ihren letzten, endgültigen Abschied vorbereiten – ihn vielleicht sogar feiern.

– Es ist leichter, gutes Französisch zu schreiben als gutes Deutsch. Denn die französische Sprache fließt in einem angenehmen »legato« dahin, mitbedingt durch das stumme »e« . Während die deutschen Wörter hintereinander stehen wie einzelne Steine. Statt des französischen »legato« herrscht im Deutschen das »staccato« vor, und damit auch ein kräftigerer Rhythmus. Doch die elegante Harmonie des Französischen bleibt im Deutschen unerreicht. Ein kurzes, typisches Beispiel : »C’est la vie« – »Das ist das Leben.« – Namen : Alphonse de Lamartine versus Johann-Wolfgang von Goethe.

– Man braucht sich nicht über das Alter zu beklagen. Denn es geht ja vorbei…

– Menschen, die nie lesen, regredieren aufs Höhlendasein.

– Autoritäre Männer sind nicht besonders entwickelte Charaktere – wie sie selber wohl meinen – : im Gegenteil, sie sind Kinder geblieben, die immer im Mittelpunkt stehen müssen und erwarten, dass alles nach ihrer Pfeife tanzt.

– Wer andere ärgert, der ärgert sich selbst, nach dem Prinzip eines psychischen Rückstoßes (statt des physikalischen). Aber gewöhnlich vertragen die Streitsüchtigen besser den Rückstoß als die Angegriffenen den Stoß.

– Was wir dem Tod verdanken : dass wir versuchen, etwas zu erreichen (was immer das sein mag) ; wozu wir uns, ein ewiges Leben sicher von Augen, kaum stark bemühen würden.

– Wohl ist der Mensch das stärkste aller Tiere – zugleich das feigste. Er sieht den schlimmsten Verbrechen zu und bleibt ruhig, wenn er nur selber in Ruhe gelassen wird.

– Wer denkt, kommt zu Überzeugungen. Wer weiter denkt, fängt an, zu zweifeln. Wer noch weiter denkt, zwingt sich zu Überzeugungen – um des Lebens willen –, oder er wird zum skeptischen Zyniker.

– Der Trick des Komikers ist, über die anderen zu lachen, um sie zum Lachen zu bringen. Sie lachen über die Witze de Komikers und vergessen darüber, dass sie selbst so komisch sind, um dem Komiker seinen Stoff zu liefern.

– Es gibt nirgends so viele Freunde wie unter Politikern, die sich kaum kennen. Da wird sich gleich umarmt, gedrückt, gestreichelt, geküsst. Sie entwerten so den selten realisierten Begriff der Freundschaft.

– Dass die Konzentrationsfähigkeit der Menschen mit den Jahrhunderten abgenommen hat, – besonders drastisch gegen Ende des 20. Jahrhunderts –, lässt es unwahrscheinlich erscheinen, dass die alten (religiösen) Schriften (besonders die indischen) zuerst mündlich von einer Generation zur anderen überliefert wurden. Trotz ihres für heute gewaltigen Umfangs !

– Ein Künstler spricht : »Bäume sind die Ornamente der Erde – mit oder ohne Blätter.« 

– Teilt man jemandem sein Urteil über einen anderen mit, wird es fast immer falsch wiedergegeben. Deshalb : besser, sich solcher Urteile enthalten.

– Denkt man daran, dass in hundert Jahren kaum noch einer von den heute Lebenden übrig sein wird, kommt man sich auf den Straßen vor wie unter einem Heer von Gespenstern.

– Welchen Wert kann das Leben objektiv haben, wenn in der unendlichen Zeit nicht ein geometrischer Punkt davon übrig bleibt ? Diese realistische Sicht der Dinge kann ein Trost sein für die Mehrheit der Menschen, kann aber zum Verzweifeln sein für die, welche sich für die »Großen« der Erde halten.

– Aus purer Verzweiflung erfand Nietzsche die ewige Wiederkunft des Gleichen : ein frommer Wunsch bei diesem Unfrommsten aller Unfrommen, der weder an einen Gott noch an ein ewiges Leben glaubte.
– Es gibt Verrückte, die nie Angst haben, und es gibt Verrückte, die immer Angst haben. Aus ersteren rekrutieren sich die Napoleons, Hitlers oder die Präsidenten der Vereinigten Staaten. Die Verrückten der zweiten Art werden eingesperrt.

– Viele, die einen jener ehrenvollen Titel tragen, trügen ihn am besten als Brett vor dem Kopf.

– Nicht wenige unter denen, die man dumm oder ungebildet nennt (weil sie keine Ahnung haben von den großen Tatsachen und Problemen der Menschheit), lenken dafür ihren Kopf umso stärker auf die nahen Dinge. Sie bauen damit ihren praktischen Sinn aus, ihre Menschenkenntnis, ihre Fähigkeit zu List und Hinterlist. So können sie die Intelligenteren in wichtigen Bereichen des täglichen Lebens hereinlegen und übertölpeln, und sie stehen dann als strahlend-dumme Sieger da. Man verachte und unterschätze die Dummen nicht !

– »Gott ist tot« : man will ihn gesehen haben, wie er als schlecht erhaltene Leiche in einem kosmischen Nebel dahin trieb. (Letzter Witz aus der Astronomie).

– Der »Wille zur Macht« zeigt sich bei Menschen – auch ohne dass sie es wissen – auf die unterschiedlichste Art. Einige brauchen zu seiner Befriedigung nur einen Hund ; andere brauchen eine Putzfrau, der sie Befehle erteilen können ; andere brauchen »Arbeitnehmer« , die sie einschüchtern dürfen. Die eigentlich Macht-Süchtigen – die Politiker – benötigen die Zustimmung, ja die Liebe möglichst vieler Menschen, im Idealfall der Mehrheit des Volkes. Amerikanische Präsidenten – noch bis neulich an der Spitze der Welt-Macht – brauchen oft sogar blutige Kriege zur Befriedigung ihres Willens zur Macht.

– Die meisten Menschen »ergreifen« keinen Beruf, sondern sie werden von einem Beruf ergriffen. Und danach fühlen sie sich auch.
– Die Menschen werden dumm geboren, lernen etwas hinzu, werden beruflich tätig, werden darüber meist wieder dumm, sind aber manchmal imstande, als Rentner wieder geistig so lebendig zu werden wie vor ihrem Arbeitsleben.

Joseph Welter