Ausland03. August 2023

Krieg gegen die Armen

Italiens Ministerpräsidentin kürzt Subvention für 600.000 Menschen. Wachsende Proteste von Opposition und Gewerkschaften

von Gerhard Feldbauer

Gegen den von der faschistischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni verfügten neuen sozialen Kahlschlag erheben sich Proteste. Nach dem so genannten »Beschäftigungsdekret« wurde ab 28. Juli weiteren 169.000 italienischen Familien das Staatsbürgerschaftseinkommen entzogen, weil sie »beschäftigungsfähig« seien. Die Betroffenen wurden per SMS am vergangenen Freitag darüber informiert. Beobachtern meinen, das »Bürgergeld« könnte im Spätsommer für weitere 80 000 Haushalte ausgesetzt werden.

Wie das Nationalinstitut für Soziale Fürsorge (INPS) der wichtigste Sozialversicherungsträger in Italien, am Wochenende mitteilte, sind diese Familien ohne jedes Einkommen, und wie sie Arbeit finden sollen, sei ein von der Regierung ungelöstes Rätsel. Insgesamt wachse die Zahl der Menschen, denen die einzige bestehende Subvention gestrichen wird, auf 600.000 an, so der Report. Zusätzlich verlieren ab 2024 weitere 350.000 Personen jeglichen Schutz. Das Institut bezeichnete die Maßnahme als »KRIEG GEGEN DIE ARMEN«.

Zentrum der ersten Proteste sind Neapel, Rom und Palermo, wo die Bürger von der Aussetzung des Einkommens am stärksten betroffen werden. In Neapel gibt es über 21.500, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur »ANSA« am Dienstag. Im südlichen Kampanien kam es laut dem linken »Manifesto« nach dem jüngsten Kahlschlag zu Schlägereien in den Büros der Sozialdienste.

Das Armutsrisiko werde aufgrund der Inflation weiter wachsen, der soziale Protest auch, denn die meisten Erwerbstätigen sind über 55 Jahre alt, und in diesem Alter ist es unmöglich, einen neuen Arbeitsplatz zu finden, warnte Luisa Gnecchi, ehemalige INPS-Vizepräsidentin und langjährige Abgeordnete des sozialdemokratischen Partito Democratico (PD). Die Generalsekretärin der CGIL von Neapel und Kampanien, Nicola Ricci, sprach von der »Gefahr einer sozialen Bombe«. Die »einzige Hoffnung für Tausende von Familien in Armut bleibt die Betreuung durch die kommunalen Sozialdienste«.

Einhellige Proteste gibt es von der Opposition. Die Ministerpräsidentin zeige ihr »wahres Gesicht« und ignoriere die Warnungen, prangerte Vorsitzende der Fünf-Sterne-Bewegung Giuseppe Conte, die menschenfeindliche Politik Melonis an. Giuseppe Conte, der als damaliger Premierminister das »Bürgergeld« 2019 einführte, bezeichnete den Schritt als »ideologischen Krieg«, der auf dem Rücken der Schwächsten ausgetragen werde.

Die Sekretärin des sozialdemokratischen PD Elly Schlein forderte, die Proteste in die Abgeordnetenkammer zu bringen.

Zur Verdeckung des neuen Angriffs auf elementare Lebensbedingungen sollen Familien, die zu Hause Minderjährige, ältere Menschen oder Behinderte haben, eine so genannte Inklusionsbeihilfe erhalten, eine Sozialkarte mit »Einkaufsgutscheinen« im Wert von 380 Euro. Die Maßnahme wird jedoch erst ab dem 1. Januar 2024 in Kraft treten, und nur 18 Prozent der 7 Millionen Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, werden diese »Vergünstigung« erhalten, um ausgewählte Einkäufe machen zu können. Abgesehen davon sei es »würdelos«, dazu »Einkaufsgutscheine« auszustellen, betonte das linke Magazin »Il Manifesto« am Dienstag.

Die faschistisch orientierten Hauptkräfte in Melonis Regierung waren schon seit einiger Zeit gegen das »Bürgergeld« angetreten. Sie hatten sich auf die Fahnen geschrieben, die Zahl der Empfänger der Unterstützung und die Ausgaben für die Unterstützung massiv zurückzufahren. Gleichzeitig werden Milliarden Euro für die Erhöhung des Militärbudgets und für die militärische Unterstützung der Ukraine ausgegeben.

Der weitere Abbau elementarster Sozialleistungen erfolgt zu einem Zeitpunkt, da Millionen Italiener – nicht nur Rentner, Arbeitslose und »sozial Schwache«, sondern auch die, die eine Arbeit haben – bereits unter den auf sie abgewälzten Krisenlasten leiden. Laut dem staatlichen Statistikamt Istat liegen die Löhne in Italien um rund zwölf Prozent unter dem EU-Durchschnitt. Das bedeutet, daß Beschäftigte in Italien jährlich rund 3.700 Euro weniger als der Durchschnitt ihrer Kollegen aus anderen EU-Staaten erhalten. Etwa fünf Millionen Arbeiter müssen von Stundenlöhnen unter zehn Euro leben.

Im Jahr 2022 mußte in Italien eine Familie für Grundnahrungsmittel wie Brot, Nudeln und Reis, Fleisch und Wurstwaren 613 Euro mehr bezahlen als noch im Jahr zuvor. Allein im vierten Quartal 2022 ging der private Konsum um 3,7 Prozent zurück, der von Lebensmitteln sogar um 5,3 Prozent. Bei den Preisen für Strom, Gas und andere Brennstoffe registrierte der Nationale Verbraucherverband Assountenti einen Anstieg um 135 Prozent pro Familie. Viele Familien sind bereits gezwungen, beim Essen zu sparen. Besonders betroffen davon sind die Arbeitslosen, denn Italien liegt dauerhaft im unteren Bereich der Beschäftigungsquote in der EU.

Die Vittorio-Stiftung der Gewerkschaft CGIL hat festgestellt, daß 2022 die Zahl der tariflich Festangestellten um 94.000 zurückgegangen ist. Nicht mit gerechnet sind 48.000 Frauen, die ihren Arbeitsplatz verloren. Hinzu kommen über 3 Millionen prekär Beschäftigte.

Zum Himmel schreiend ist die soziale Lage der Jugendlichen. Wie die Verbraucherorganisation Federcontribuenti kürzlich berichtete, bekommen 54 Prozent der 30-jährigen Lohnabhängigen in Italien weniger als 7 Euro netto pro Stunde, darunter bis zu 29 Prozent Teilzeitkräfte und Auszubildende. 48 Prozent von ihnen sagen, daß sie durch Arbeitsstunden außerhalb ihres Gehaltsschecks ausgebeutet und oft ihre Überstunden nicht bezahlt werden.

Diese jungen Menschen haben kein angemessenes oder gar kontinuierliches Gehalt: 6 Monate arbeiten sie, 6 Monate arbeiten sie nicht, und wenn sie arbeiten, bekommen sie durchschnittlich 100 - 120 Euro netto pro Woche. Damit ist Italien »das Land in der EU mit den niedrigsten Gehältern, und die Beschäftigten werden über nationale Tarifverträge vorsätzlich ausgebeutet und mißbraucht«, so der Verband, der vermerkt, daß mit über 1,3 Millionen Teilzeitverträgen »immer mehr jungen männlichen und weiblichen Beschäftigten die Möglichkeit genommen wird, eine Wohnung zu mieten und eine Familie zu gründen«, denn dazu braucht man einen festen Arbeitsplatz und ein angemessenes Gehalt.

Die sich verschlimmernde Lage betrifft auch das Schicksal kleiner Geschäfte, die laut dem Kleinunternehmerverband Confesercenti im Jahr 2022 sechs Prozent Umsatz im Vergleich zum Vorjahr einbüßten – ganz zu schweigen davon, daß Zehntausende Kleinunternehmer in den Ruin getrieben wurden.