Ausland13. April 2021

Vor 75 Jahren

Die Kurie und die Ratten

Über »Rattenlinien« verhalf der Vatikan nach Kriegsende 1945 in Kollaboration mit dem USA-Geheimdienst Zehntausenden führenden Faschisten zur Flucht vor ihrer Bestrafung

von Gerhard Feldbauer

Am 6. April 1946 – die Niederlage Hitlerdeutschlands im Zweiten Weltkrieg lag noch nicht einmal ein Jahr zurück – kamen in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires etwa 50 Ustascha-Faschisten des kroatischen Satellitenregimes an, wo sie im Büro des Erzbischofs bereits erwartet wurden. Ihre Flucht hatte ein gewisser Krunoslav Draganović, Vertrauter des Ustascha-Führers und Chefs des unter der Okkupation Hitlerdeutschlands proklamierten »Unabhängigen Staates Kroatien«, Ante Pavelić, im Kloster San Girolamo in der Via Tomacelli 132 in Rom organisiert. Das Kloster war ein Sammelzentrum, in dem Faschisten aus Kroatien, Österreich und Jugoslawien über Stationen in Triest und Venedig eintrafen, bevor sie ausgeschleust wurden.

Unter den von der Kurie zusammen mit dem US-amerikanischen Geheimdienst organisierten Fluchtrouten, im Geheimdienstjargon »Rattenlinien« (rat lines) genannt, war die nach Argentinien die am meisten frequentierte. Das ergab sich daraus, daß Argentinien zur Zeit des Faschismus in Deutschland ein Nazi-Eldorado bildete. Von den fast 40.000 dort lebenden Deutschen waren die meisten aktive Anhänger des Hitlerregimes gewesen, und Buenos Aires Zentrale der faschistischen Propaganda und der Spionage für ganz Südamerika. Nach Argentinien hatte das Hitlerregime vor seinem Zusammenbruch riesige Vermögenswerte transferiert. Unter General Juan Perón, einem Bewunderer Hitlers und Mussolinis, der 1946 die Präsidentschaftswahlen gewann und bis 1955 regierte, wurde das Land zu einem neuen Paradies für geflohene Nazi-Verbrecher.

Zu den vor ihrer gerechten Bestrafung Bewahrten gehörten neben international gesuchten Kriegsverbrechern wie dem NSDAP-Reichsleiter Martin Bormann, dem Organisator der faschistischen Konzentrationslager Adolf Eichmann, dem KZ-Arzt von Auschwitz Josef Mengele, dem Kommandanten der Vernichtungslager von Sobibor und Treblinka, Franz Stangl, und dem des Ghettos in Przemyśl, Josef Schwammberger, auch Ustascha-Führer Ante Pavelić, mit fast seinem gesamten Kabinett.

Ausgeschleust wurden in der Folge deutsche und italienische Faschisten, belgische und französische Kollaborateure, kroatische Ustascha-Leute, slowakische Klerikalfaschisten, ungarische Anführer der faschistischen Partei der Pfeilkreuzler und Angehörige der rumänischen »Eisernen Garde«. Wie der argentinische Historiker Uki Goñi in seinem Buch »Odessa. Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher« (Berlin/Hamburg, 2006) recherchierte, waren mindestens 300 der ausgeschleusten Faschisten bereits in Europa abgeurteilte oder angeklagte Kriegsverbrecher. Allein etwa 50.000 Deutsche und Kroaten konnten nach Argentinien entkommen.

Zu den wenigen, die ihrer Strafe trotz der Fluchthilfe nicht entgingen, gehörte der SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, Organisator der Verfolgung, Vertreibung und Deportation von Juden und Mitverantwortlicher für die systematische Ermordung von sechs Millionen Menschen. Er wurde im Mai 1960 von einem Kommando des israelischen Geheimdienstes Mossad aus Argentinien entführt und nach Israel gebracht, wo er in einem Prozeß im Dezember 1961 zum Tode verurteilt wurde. Das Urteil wurde nach Bestätigung in der Revision am 1. Juni 1962 durch Erhängen vollstreckt.

Die Botschaft der 1949 gegründeten Bundesrepublik Deutschland betreute in Argentinien die geflohenen Faschisten und stellte u.a. dem KZ-Arzt Mengele, der unter falschem Namen eingereist war, unter seinem echten Namen einen Reisepaß aus, mit dem er in die Schweiz und dann in die Heimat zurückreisen konnte. Der 1946 in Nürnberg zum Tode verurteilte Martin Bormann besaß als Jesuitenpriester getarnt, auf den jüdisch klingenden Namen eines in Polen geborenen Eliezer Goldstein ausgestellte Papiere des Vatikans mit der Unterschrift von Papst Pius XII., mit denen er nach Brasilien gelangte.

Cheforganisator Kardinal Montini

Im Vatikan selbst leitete Kardinal Giovanni Battista Montini –  der spätere Papst Paul VI, (1963-1978) – die Rettungsaktion für die Faschisten im Auftrag Papst Pius XII. Als Ressortleiter gehörte er zur Spitze des 1943/44 gebildeten vatikanischen Geheimdienstes »Pro Deo«, der eng mit dem Office of strategic Service (OSS) und später mit dessen Nachfolgedienst, der Central Intelligence Agency CIA, zusammenarbeitete

Zu Montinis Helfern gehörte der deutsche Kriegsverbrecher und SS-Sturmbannführer Karl Hass, der zusammen mit dem SS-Chef von Rom, Herbert Kappler, und dessen Stellvertreter Erich Priebke u.a. im März 1944 in den Ardeatinischen Höhlen bei Rom an der Ermordung der 35 Geiseln beteiligt war.

An der Fluchthilfe beteiligten sich zudem Antonio Kardinal Caggiano, der Erzbischof von Buenos Aires, und Augustín Barrere, Bischof von Tucumán in Argentinien, sowie der österreichische Bischof Alois Hudal, der Prälat Ference Luttor aus Ungarn, der 1948 selbst nach Argentinien geflohen war und für den im kapitalistischen Ungarn in der Stadt Balatonfüred im September 2002 eine Gedenktafel eingeweiht wurde. Bischof Hudal hatte 1937 in einem Buch »Die Grundlagen des Nationalsozialismus« einen »christlichen Nationalsozialismus« propagiert. Das Buch schickte er an Adolf Hitler mit der Widmung »Dem Siegfried deutscher Größe«. In seiner Autobiographie brüstete er sich mit den Dankschreiben Dutzender Nazis, die »mit falschen Ausweispapieren« ihrer gerechten Strafe entkommen warnen und damit prahlten, »bis 1945 im Kampf gegen den Bolschewismus, für Europa« gestanden, und, wie es in einer dieser Widmungen heißt, »während dieser gewaltigen Auseinandersetzung mit dem Kommunismus« an der Front und in der Heimat »unbeugsam und kompromißlos« ihre Pflicht erfüllt zu haben.

Laut Dokumenten des Finanzministeriums der USA hat der Vatikan bei Kriegsende vom faschistischen Ustascha-Regime in Kroatien Gold im Werte von 250 Millionen Schweizer Franken »in Verwahrung« genommen. Die Summe stammte aus dem Vermögen von insgesamt 350 Millionen Schweizer Franken von mehreren hunderttausend Serben, darunter Juden, Sinti und Roma, sowie von oppositionellen Kroaten, die in der Zeit des Ustascha-Regimes von 1941 bis 1945 ermordet worden waren. 100 Millionen Franken hatten britische Truppen an der Grenze zwischen Österreich und der Schweiz bei Kriegsende »sichergestellt«.

Unter den Tausenden nach Italien geflohenen Ustascha-Verbrechern waren 600, die in Neapel in ein alliiertes Kriegsgefangenenlager eingeliefert worden waren, und deren Auslieferung Jugoslawien gefordert hatte. Am 26. März 1946 wandte sich Papst Pius XII. persönlich an den diplomatischen Vertreter Großbritanniens beim Heiligen Stuhl mit der Aufforderung, diese Kriegsverbrecher »auf keinen Fall an die Regierung Marschall Titos auszuliefern«.

Der Papst als Schirmherr der »rat lines«

Pius XII. war oberster Schirmherr dieser »Rattenlinien«. Wie Goñi schreibt, setzte sich der Papst in Washington und London persönlich »für bekannte Kriegsverbrecher und Nazi-Kollaborateure« ein. Das verwundert nicht, denn dieser Faschist unter der Soutane war als Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli Architekt des »Reichskonkordats« gewesen, das er am 20. Juli 1933, also knapp sechs Monate nach Hitlers Machtantritt, im Auftrag von Papst Pius XI. mit der faschistischen deutschen Reichsregierung unterzeichnete. Es verkündete, »die zwischen dem Heiligen Stuhl und dem deutschen Reich bestehenden freundschaftlichen Beziehungen zu festigen« und verpflichtete alle Katholiken, für »das Wohlergehen Hitlerdeutschlands« zu beten.

Gemäß der von Pacelli vorgegebenen Linie, mit dem Reichskonkordat sei »etwas Segensreiches« für die »unsterblichen Seelen« unter »Gottes gütigem Gnadenbeistand« geschaffen worden, begrüßten die deutschen Bischöfe »mit großer Freude«, daß unter Hitler nicht mehr »der mörderische Bolschewismus mit seinem satanischen Gotteshaß die deutsche Volksseele bedrohen und verwüsten« dürfe. Das war geradezu eine Zustimmung, ja Segnung der mit dem Machtantritt Hitlers begonnenen Hetzjagd gegen Kommunisten und Sozialisten und alle, die verdächtigt wurden, ihnen nahe zu stehen oder sich gegen die faschistische Diktatur wandten – darunter auch Tausende Katholiken. Allein in Bayern saßen zu diesem Zeitpunkt bereits über 2.000 Hitlergegner in den Zuchthäusern.

Als es den Franco-Faschisten mit Hilfe der Kurie und Hitlerdeutschlands sowie Mussolini-Italiens im Februar 1939 gelang, die Spanische Republik zu zerschlagen und nach der Einnahme Madrids die Mordkommandos wüteten, gratulierte Pius XII., der am 2. März 1939 sein Pontifikat angetreten hatte, dem faschistischen Diktator Franco: »Die von Gott als wichtigster Diener der Evangelisation der Neuen Welt und als uneinnehmbares Bollwerk des katholischen Glaubens auserwählte Nation hat soeben den Anhängern des materialistischen Atheismus unseres Jahrhunderts den erhabensten Beweis dafür geliefert, daß über allen Dingen die ewigen Werte der Religion und des Geistes stehen.« Ein weiteres Glückwunschtelegramm erhielt Hitler, dem der Papst »mit besten Wünschen den Segen des Himmels und des allmächtigen Gottes« übermittelte.

Nach dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion riefen alle deutschen Bischöfe bereits vier Tage später, am 26. Juni 1941, die Soldaten der Hitlerwehrmacht »zu treuer Pflichterfüllung« auf, um »im Kampf gegen die Macht des Bolschewismus« dem »heiligen Willen Gottes« zu folgen.

Ohne auch nur ein Wort des Einwands sah Pius XII. dem Völkermord an den Juden zu. Im April 1944 informierte ihn der Erzbischof Angelo Giuseppe Roncalli, der spätere Papst Johannes XXIII. (1958-63), über die in Auschwitz begangenen Verbrechen. Roncalli war Nuntius (Botschafter des Vatikans) in Istanbul, und hatte über die in Auschwitz verübten Gräueltaten durch die »Protokolle von Auschwitz« erfahren, verfaßt von zwei Juden, die im April 1944 aus Auschwitz fliehen konnten. Er schickte unverzüglich eine Zusammenfassung des Berichts per Telegramm an Pius XII. Unter der Überschrift »Ein ignoriertes Telegramm« berichtete die 1968 gegründete spanische Geschichtszeitschrift »Historia y Vida« in ihrer Nr. 467/2007 darüber und hielt fest, daß die bis heute verbreitete Version des Vatikans, Pius XII. habe »erst im Oktober 1944« über genauere Details über Auschwitz verfügt, unwahr ist.

Nach 1945 versuchte die katholische Kirche, ihre Schützenhilfe für das verbrecherische Hitlerregime und seine Verbündetenm nicht nur zu leugnen, sondern die höchsten Würdenträger der Kirche protestierten gegen Festnahmen von Nazis durch Besatzungsbehörden. Im Rheinland »habe es nur wenige überzeugte Nazis gegeben«, behauptete der Kölner Erzbischof Josef Kardinal Frings am 18. Juli 1945 im Hauptquartier der britischen Besatzungstruppen und forderte, »das Problem der internierten Parteigenossen (der Mitglieder der Nazi-Partei, Anm. d. Red.) müsse gelöst werden«. Der Fuldaer Bischof Johann Baptist Dietz behauptete, 90 Prozent der Menschen seiner Diözese seien »ausgesprochene Gegner« der NSDAP gewesen. Der Landesbischof von Hannover, August Friedrich Karl Marahrens verstieg sich zu der Behauptung, daß »die Mitglieder der SA zum größten Teil vernünftig denkende Menschen und keine Parteifanatiker« gewesen seien. Sie hätten »lediglich eine innere Erneuerung des deutschen Volkes auf vaterländischer Grundlage« erstrebt.

Seligsprechungen

Clemens August Graf von Galen, Bischof von Münster, hatte den Führern des Hitlerregimes 1933 dafür gedankt, daß sie »die furchtbare Gefahr, welche unserem geliebten Volk durch die offene Propaganda für Gottlosigkeit und Unsittlichkeit drohte, erkannt haben und sie auch mit starker Hand auszurotten suchen«. Als das gegen Adolf Hitler gerichtete Attentat des Antifaschisten Georg Elsner im Bürgerbräukeller in München am 8. November 1939 fehlschlug, nannte er den Angriff auf den Naziführer ein »verabscheuungswürdiges Verbrechen«, beglückwünschte Hitler wärmstens für »die glückliche Rettung« und bat, »Gott möge auch ferner seinen schützenden Arm über Sie halten«. Im März 1942 pries er die siegreichen deutschen Soldaten, deren Kampf »ein Kreuzzug gegen den Bolschewismus sei«, mit dem sie Europa »vor der roten Flut« bewahrten. Clemens August Graf von Galen wurde im Februar 1946 von Pius XII. zum Kardinal erhoben. Den polnische Papst Karel Wojtyla, alias Johannes Paul II. vollzog schließlich 1995 die Seligsprechung des Kardinals.

Nicht unerwähnt bleiben kann auch, daß auch Jorge Mario Bergoglio, der seit 13. März 2013 als Papst Franziskus auf dem Stuhl Petri sitzt, sein Scherflein zur Reinwaschung der »Rattenlinien«-Organisatoren beigetragen hat. Was von seinen Verkündungen von Reformen, er wolle eine »offenere Kirche«, zu halten ist, zeigte sich, als er am 15. Oktober 2014 Papst Paul VI., jenen Kardinal Giovanni Battista Montini, der nach 1945 Martin Bormann, Adolf Eichmann, Josef Mengele und Zehntausende Nazi-Verbrecher vor ihrer Bestrafung rettete, selig sprach.