Libanon als Spielball
Europäische Union, USA und Golfstaaten sammeln Nothilfegeld für Beirut
Der französische Präsident Michel Macron hat am Sonntag Zusagen für 252,7 Millionen Euro an Hilfsgeldern erhalten, um dem Libanon bei der Bewältigung der Folgen der verheerenden Explosion im Hafen von Beirut zu helfen. Die Gelder sind als Nothilfe deklariert, was vor allem in den Geberländern Zugriff auf Sonderbudgets ermöglicht.
Ersten Schätzungen zufolge könnten sich die Schäden in Beirut auf 15 Milliarden Euro belaufen. Die Zusagen stammen vor allem von der EU, Britannien, Deutschland, Frankreich, Spanien, der Schweiz, den USA, Katar, Kuwait, Dänemark und Norwegen.
Mit der Nothilfe ist die Forderung nach Reformen im Libanon verbunden. Partner seien bereit, um die wirtschaftliche und finanzielle Erholung des Landes zu unterstützen, hieß es in der von der libanesischen Nachrichtenagentur verbreiteten Erklärung. Das sei »Teil einer Stabilisierungsstrategie« und erfordere, daß sich die libanesischen Behörden »selber vollständig zügigen Maßnahmen und Reformen verpflichten«, wie es »das libanesische Volk« erwarte.
Hilfsgelder mit Bedingungen verbunden
Die Hilfsgelder sollen zudem nicht an die Regierung, sondern »schnell, ausreichend und beständig direkt an die libanesische Bevölkerung übergeben werden, mit der größten Effizienz und Transparenz«, hieß es in der von der libanesischen Nachrichtenagentur verbreiteten Erklärung. Die Videokonferenz war in Kooperation mit dem UNO-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) durchgeführt worden. Diese soll die Koordination der Hilfe und Verteilung der Hilfsgelder im Libanon beaufsichtigen.
In der Erklärung hieß es darüber hinaus, »auf Bitte des Libanon ist Unterstützung bei einer neutralen, glaubwürdigen und unabhängigen Untersuchung der Explosion am 4. August umgehend notwendig und vorhanden«.
Damit wird dem Land ein weiteres Problem beschert. Die Feuer im Hafen von Beirut waren noch nicht gelöscht und alle Toten noch nicht geborgen, da forderten Amnesty International und Human Rights Watch bereits eine internationale Untersuchung der Explosionen. Die Protestbewegung griff die Forderung auf und rasch taten sich die alten Fronten wieder auf. Der maronitische Patriarch Cardinal Beshara Boutros Rahi schloß sich der Forderung nach einer Internationalen Untersuchung ebenso an wie Walid Dschumblatt von der Progressiven Sozialistischen Partei.
Der amtierende Präsident Michel Aoun wies allerdings eine Internationalisierung der Untersuchungen im Hafen von Beirut zurück und kündigte an, daß der Libanon als souveräner Staat selber einen Untersuchungsbericht vorlegen werde.
Die Regierung Diab – umgangen von den einen, bekämpft von den anderen
Hassan Diab hatte keine Chance. Der 53. Regierungschef des Libanon seit 1945 war nur sechs Monate im Amt. Anders als seine Vorgänger hat Diab keine Partei hinter sich und stammt auch nicht aus einem der mächtigen Clans, die den Libanon seit mehr als 100 Jahren kontrollieren.
Die Straßenproteste im Herbst 2019 hatten eine unabhängige Regierung aus Technokraten gefordert, die die Wirtschaftskrise lösen und mit Korruption und Vetternwirtschaft aufräumen sollte. Doch die Aufgabe war zu groß. Zwar war Diab von einer Mehrheit im Parlament gewählt worden, doch hatte sich der politische Block um seinen Vorgänger Saad Hariri demonstrativ der Abstimmung verweigert und die Regierung Diab von Anfang an als »Hisbollah-Regierung« bekämpft.
Unterstützung dafür gab es nicht nur vom administrativen Apparat, den Saad Hariri und viele seiner Vorgänger geschaffen hatten, auch der Gouverneur der Zentralbank, Riad Salameh, weigerte sich, der Regierungsanordnung nach Untersuchungen über Korruption in den Banken nachzukommen. Rückendeckung erhielt Salameh demonstrativ von der USA-Botschaft in Beirut und vom französischen Außenministerium.
Riad Salameh gehört zum Urgestein der politischen Elite im Libanon. Seine Karriere ist beispielhaft für die Verquickung des Libanon in die internationale Finanz- und Bankenwelt. Bis der Ökonom 1993 die Leitung der Zentralbank übernahm war er Vizepräsident von Merrill Lynch, zuständig für Investment bei der Bank von Amerika und ist Mitglied im Gouverneursrat des Internationalen Währungsfonds als auch des Arabischen Währungsfonds.
Reformkonzepte, die die Regierung von Hassan Diab bei Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds vorgelegt wurden, stellte Salameh in Frage. Der IWF wies die Anträge wiederholt als unstimmig zurück.
Das Angebot Chinas, den wichtigen Energie- und Transportsektor des Libanon zu erneuern und auszubauen, verwies der entscheidungsschwache Diab an das Industrieministerium zur weiteren Prüfung. Man wolle sich nicht vom Westen abkehren und China zuwenden, ließ Diab mitteilen. Der Libanon wolle unabhängig mit allen Seiten wirtschaftliche Beziehungen pflegen.
Die Explosionen im Hafen von Beirut setzten allen Bemühungen von Diab ein Ende. Am Samstagabend kündigte er an, dem Parlament Neuwahlen vorzuschlagen. Unmittelbar darauf begann die Absetzbewegung. Abgeordnete gaben ihre Parlamentsmandate zurück und Minister reichten ihren Rücktritt ein.
Die Protestbewegung – bunt, schillernd, ohne Konzept
Die Protestbewegung, die in den Tagen nach der Explosion international viel Aufmerksamkeit erhielt, repräsentiert keineswegs die libanesische Bevölkerung. Politisch sind die Demonstranten verschiedenen Gruppen und Parteien zuzuordnen, die nichts verbindet außer der Forderung nach dem Sturz der Regierung. Viele gehen explizit gegen die Hisbollah auf die Straße. Deren Unterstützer kritisieren ebenfalls das System der Clan- und Vetternwirtschaft, halten aber Proteste zu diesem Zeitpunkt für falsch. Die Kommunistische Partei des Libanon unterfütterte ihre Forderung nach »Sturz des mörderischen Regimes und seines vom Ausland unterstützten politischen Systems« mit einer politischen Analyse, die bis in das Jahr 1992 zurückreicht. Ihre zentrale Kritik richtet sich vor allem das konfessionelle Proporzsystem.
Die Mehrheit der Libanesen hatte keine Zeit und keine Kraft, sich an den Protesten in der Innenstadt zu beteiligen. Sie waren schon vor der Explosion damit beschäftigt, sich und ihre Familien zu ernähren und vor einer Infektion mit dem Coronavirus zu schützen. Nach der Explosion im Hafen mußten Angehörigen und Freunde beerdigt oder deren medizinische Versorgung gewährleistet werden. Sie mußten Geld für den Kauf von Glas aufbringen und gleichzeitig Strom, Wasser und Nahrungsmittel bezahlen. Auch wenn der Zorn und das Leid die Libanesen fast zu überwältigen drohen, müssen sie zunächst – das haben sie im 15-jährigen Bürgerkrieg (1975-1990) gelernt – den Alltag organisieren.
Karin Leukefeld
(Foto: PATRICK BAZ/AFP)