Ausland13. Juli 2023

Aburteilen statt zuhören

Law-and-Order-Politik statt Ursachenbekämpfung. Wachsende Kritik an der Polizei in Frankreich

von Hansgeorg Hermann

Die Geste war wie immer großartig, das Ergebnis eher dürftig. Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron hatte am 4. Juli mit viel Pomp 220 Bürgermeister jener Kommunen im Präsidentenpalais Élysée empfangen, in denen die Revolte der Jugend des Landes die größten Sachschäden hinterlassen hat. Am Abend, nach mehreren Stunden Austausch, zeigte sich die Mehrheit der Gäste enttäuscht. »Der Präsident schien sehr zufrieden mit seiner Politik«, faßte Ali Rabeh, junger Bürgermeister des Pariser Vororts Trappes vor Journalisten zusammen, »ich komme hier noch hoffnungsloser raus als ich vorher war, weil ich keinen Willen zu irgendeiner Reform sehe«.

Macrons Schlußfolgerungen und die seines Justizministers Éric Dupond-Moretti nach einer Woche »Feuersbrunst«, wie französische Medien den von wilder Wut getragenen Aufstand der Jungen nannten, sind in der Tat bescheiden: Der Staatschef will die Eltern der vielen revoltierenden Minderjährigen – auch finanziell – in Haftung nehmen. Dupond-Moretti will knapp 400 festgenommenen Minderjährigen vor Gericht »Achtung« vor den Institutionen und anderer Leute Eigentum beibringen lassen. Fazit der beiden: »Das Schlimmste ist überstanden«, und »wir müssen zur Normalität zurückkehren«.

Die am selben Tag veröffentlichte Bilanz des scharf rechten Innenministers Gérald Darmanin, der nach dem gewaltsamen Tod des 17-jährigen Nahel am 27. Juni tage- und nächtelang 45.000 bewaffnete Uniformierte verschiedener Spezialeinheiten auf die Straßen des Landes schickte, liest sich wie ein Anklage gegen die unfähigen politischen Entscheidungsträger: 3.526 festgenommene junge Menschen, 1.124 von ihnen minderjährig. Der bislang interessanteste Vorschlag des Justizministers: Von seinen Staatsanwälten erwarte er eine »schnelle, strenge und systematische Beurteilung« dessen, was in der vergangenen Woche an gesetzwidrigen »Ausschreitungen« registriert worden sei.

Schon jetzt und sofort müsse der »Weg hin zu einer Achtung gebietenden« juristischen Erfassung der minderjährigen »Straftäter« beschritten werden – Vorführung vor einen Staatsanwalt, Aburteilung durch einen Jugendrichter, eventueller Dialog zwischen Eltern, jugendlichen Delinquenten und Vertretern der Staatsmacht.

Auch die Organisation der Revolte in den sozialen Netzwerken müsse untersucht werden, schlägt seinerseits der Präsident vor, eventuell müsse ihre Nutzung künftig eingeschränkt oder blockiert werden, wenn wieder mal Ungemach in den Straßen der Republik drohe. Nicht auszuschließen seien zukünftig in der Verfassung verankerte Notmaßnahmen – anzuwenden bei drohender Gefahr für die Republik – wie Ausgangssperren oder die Verhängung des Ausnahmezustands.

Ankündigungen, die von der bürgerlichen Rechten und ihren politischen Anverwandten am äußersten rechten Rand sofort begrüßt wurden. In den sogenannten sensiblen Vierteln, aus denen Arbeitslosenquoten von bis zu 60 Prozent gemeldet werden und materielle Armut der Normalzustand ist, sind deren Wähler traditionell selten zu Hause.

Dort lebt einer wie Noreddine Iznasni, ein 61 Jahre alter Sozialarbeiter. In der Pariser Tageszeitung »Libération« beschrieb er jüngst den hoffnungslosen Alltag der von Dupond-Moretti zur Achtung des Staats befohlenen Jugendlichen und erinnerte an die vielen durch Polizeigewalt getöteten jungen Menschen, seit er seine Arbeit in Nanterre aufgenommen habe – dort, wo nun auch Nahel starb: »Die Burschen sterben, einer nach dem anderen, und nichts ändert sich«. Und: »Wie viele (getötete) Nahels wurden nicht gefilmt«, die uniformierten Täter folglich nie ermittelt oder vor Gericht gestellt?

»Was sollen wir nur mit dieser Polizei machen«, fragten Pariser Medien in den vergangenen Tagen sich selbst und die 67 Millionen Franzosen. »Müssen wir erst alles niederbrennen, bevor man uns zuhört«, fragten die jugendlichen Meuterer am 5. Juli in einer Schlagzeile der »Libération«.

Die Antwort habe Macron bisher vermieden, bilanzierten die 220 Bürgermeister. Als Fakten bleiben ihren Gemeinden vorerst nur zwei Tote, 5.892 abgefackelte Fahrzeuge und 1.105 niedergebrannte Gebäude.