Ausland07. Dezember 2022

Nahrungsmittel als Spekulationsobjekte

Eine niederländische Studie zu russisch-ukrainischem Getreideabkommen: Zahlungskräftige Kunden im Westen werden zuerst mit Korn und Mais aus der Ukraine beliefert

von Gerrit Hoekman

Das Getreideabkommen zwischen Rußland und der Ukraine soll die Weltmarktpreise für Lebensmittel senken und den Hunger auf der Welt lindern. So die Erzählung der UNO, der EU und der Ukraine. Doch in erster Linie profitiert bis jetzt die Agrar- und Lebensmittelindustrie in den reichen Ländern des Westens. Das legt eine aktuelle Studie der niederländischen Universität von Wageningen nahe.

»Es scheint uns, daß dominante Akteure des Ernährungssystems das Narrativ der Krise als Vorwand nutzen, um die herrschenden, ungerechten Strukturen der globalen Ernährung zu verstärken, die Ernährungskrisen überhaupt erst hervorrufen«, heißt es in der Studie mit dem Titel »Krise und Kapitalismus: Ein tiefer Einblick in die Black Sea Grain Initiative und die globale Ernährungspolitik«, die unter ruralsociologywageningen.nl in englischer Sprache nachgelesen werden kann.

Als hätte er die niederländische Studie gelesen, gab der Präsident der Ukraine, Wolodimir Selenski, bei einer seiner Videoansprache bekannt, sein Land wolle Getreide im Wert von 150 Millionen US-Dollar an die ärmsten Länder der Welt liefern. »Ernährungssicherheit ist eines der Schlüsselelemente globaler Stabilität«, so Selenski. Das Programm »Grain from Ukraine« (Getreide aus der Ukraine) sei ein wichtiger Schritt zur Bekämpfung der weltweiten Lebensmittelkrise. Im Moment würden 60 Schiffe vorbereitet, die Getreide in arme Länder bringen sollen. Die deutsche Bundesregierung hat laut Kanzler Olaf Scholz in Abstimmung mit dem Welternährungsprogramm der UNO (WFP) dafür 15 Millionen Euro bereitgestellt.

Die Ukraine ist eine enorm wichtige Produzentin von billigem Weizen und Mais. Nach Beginn der neuen Phase des Krieges im Februar verdoppelte sich der Weltmarktpreis für diese Produkte umgehend. »Das Brot in den Niederlanden wurde um einige Cent teurer, was für die Mehrheit der niederländischen Verbraucher ein überwindbares Problem darstellt. Doch die Verbraucher in Afrika, von denen viele mehr als die Hälfte ihres verfügbaren Einkommens für Lebensmittel ausgeben, wurden von den Preiserhöhungen hart getroffen«, schrieben die an der Studie beteiligten Wissenschaftler Joost Jongerden und Bart de Steenhuijsen Piters in einem Beitrag in der Zeitung »Volkskrant«.

Ukrainisches Getreide würde den Hunger leidenden Menschen in Afrika und Asien tatsächlich sehr helfen – bislang ist aber nur wenig bei ihnen angekommen. Ob sich das mit der Ansage des ukrainischen Präsidenten nun ändern wird, bleibt abzuwarten. Ähnliche Töne waren auch schon zu Beginn des Getreideabkommens aus Kiew zu hören. Die Realität sah allerdings komplett anders aus: Die ersten Schiffe brachten Getreide nach Irland, Italien, Taiwan, Südkorea, in die Türkei und den Iran. Erst nach zwei Wochen lief zum ersten Mal ein vom WFP gecharterter Frachter mit Weizen in Richtung Horn von Afrika aus. Es dauerte weitere 14 Tage, bis ein zweites Schiff Weizenmehl in den vom Krieg schwer gezeichneten Jemen brachte. Tatsächlich gingen bis zum 31. Oktober 61 Prozent des exportierten Getreides in europäische Länder. 26 Prozent waren für Asien vorgesehen, hauptsächlich für Taiwan. Nur 13 Prozent erreichten Afrika.

Seit dem 1. August führte die Ukraine etwa vier Millionen Tonnen Mais aus. Ein Drittel davon kaufte laut der Wageningen-Studie Spanien. Hauptsächlich als Tierfutter und für die Bioethanolproduktion. »Der Maisdeal macht schmerzlich deutlich, daß der weltweite Handel mit Nahrungsmitteln von den Grundprinzipien von Angebot und Nachfrage bestimmt wird, wobei die Kaufkraft der entscheidende Faktor ist«, kritisieren Jongerden und Steenhuijsen Piters in der »Volkskrant«. »So wird das Vieh in Ländern wie Spanien und den Niederlanden besser ernährt als die mittellosen Verbraucher in Teilen Afrikas und Asiens.«

Die eigentliche Ursache der Lebensmittelkrise in den armen Teilen der Welt sei nicht der Krieg in der Ukraine, sondern der neoliberalisierte Weltmarkt, auf dem Nahrungsmittel als Spekulationsobjekte gehandelt werden.