Ausland03. Dezember 2024

»Senegalschützen« hatten ihren Dienst getan und sollten gehen

80 Jahre nach Massaker von Thiaroye bleibt Unrecht ungesühnt

von Ralf Klingsieck, Paris

nde vergangener Woche hat der Präsident Senegals, Bassirou Diomaye Faye, die Kündigung des Militärabkommens mit Frankreich bekanntgegeben. Damit müssen nun auch die letzten 350 im Land stationierten französischen Soldaten abziehen. Die gleiche Entscheidung fällte zeitgleich der Präsident des Tschad, Mahamat Idriss Déby Itno. Dort stand bisher mit 1.000 Mann das größte französische Kontingent in Afrika. Als Datum für diesen Schritt, »durch den die Selbstbestimmung und nationale Souveränität betont werden soll«, wie der Präsident hervorhob, hatte Senegal – bestimmt nicht zufällig – das vergangene Wochenende gewählt.

Am Sonntag vor 80 Jahren, am 1. Dezember 1944, wurde im Militärlager Thiaroye nahe der senegalesischen Hauptstadt Dakar ein Massaker an einheimischen Soldaten angerichtet, die an der Seite der französischen Kolonialmacht am Zweiten Weltkrieg teilgenommen hatten und jetzt in ihrer Heimat demobilisiert wurden. Daß ein Teil von ihnen lautstark, aber gewaltlos dagegen protestierte, daß ihnen ihr Sold vorenthalten werden sollte, werteten die Kolonialoffiziere vor Ort als »Aufruhr« und sie ließen mit Maschinengewehren auf die protestierenden Soldaten schießen. Offiziellen Angaben zufolge gab es dabei 36 Tote, doch Historiker schätzen, daß es in Wirklichkeit zehn Mal so viele waren und daß die meisten anonym in Massengräbern verscharrt wurden.

Die erste Einheit der »Senegalesischen Schützen« wurde bereits 1857 aus afrikanischen Freiwilligen oder von den Behörden freigekauften – und ihnen damit verpflichteten – Sklaven gebildet, um die französischen Truppen bei der »Aufrechterhaltung der Ordnung« in den Kolonien zu unterstützen. Der Begriff »Senegalschützen« wurde von Militärhistorikern geprägt, aber diese Soldaten stammten bald nicht mehr nur aus dem Senegal, sondern aus acht verschiedenen französischen Kolonien in Westafrika, von Algerien über Mali und den Tschad bis Kongo-Brazzaville.

Als im Ersten Weltkrieg die zahlenmäßige Überlegenheit der deutschen Truppen eine Sammlung aller Reserven und damit auch eine Verlegung der in Afrika stationierten französischen Einheiten nötig machte, wurden diese dort durch Verbände aus einheimischen Soldaten abgelöst, die man außerdem stark aufgestockt hat. Weil dabei die Zahl der Freiwilligen nicht ausreichte, ging man dazu über, Afrikaner zwangsweise einzuziehen. Schon bald wurden erste Einheiten auch auf den Kriegsschauplatz im Nordosten Frankreichs geschickt. Dort haben schließlich rund 200.000 Afrikaner gekämpft und dabei verloren 30.000 von ihnen ihr Leben. Die schwarzen Soldaten bekamen tagtäglich den Rassismus der Franzosen zu spüren, und nicht nur den der Offiziere, sondern auch ihrer weißen »Kameraden«.

Um sie zu motivieren, wurde den Afrikanern versprochen, daß sie nach dem siegreich beendeten Krieg Staatsbürger Frankreichs würden, doch das erwies sich als Lüge. Die Kolonien blieben, was sie waren. Im Zweiten Weltkrieg wiederholte sich alles: wieder wurden – notfalls mit Gewalt – Einheiten ausschließlich aus Afrikanern aufgestellt und nach Europa geschickt. Hier stellten sie drei Viertel der letztlich rund 600.000 Soldaten von General de Gaulles Armee des Freien Frankreich und rund 55.000 von ihnen sind gefallen. So war das Freie Frankreich bei der Landung der Alliierten in der Provence fast ausschließlich durch Afrikaner vertreten. Doch je weiter diese Einheiten nach Norden vordrangen, desto mehr schwarze Soldaten wurden beim Einmarsch in die befreiten Städte Frankreichs gegen weiße – meist aus den Reihen der inneren Résistance – ausgewechselt. Das entsprach eher dem Mythos von der Selbstbefreiung Frankreichs. Auch die Lüge von der in Aussicht stehenden Staatsbürgerschaft wurde den Afrikanern gegenüber wiederholt, aber längst nicht mehr von allen geglaubt. Bei ihnen verstärkte sich der Eindruck, daß sie der französischen Armee als Kanonenfutter gedient hatten, aber bei der Befreiung des Landes nicht dabei sein sollten. Auch an den Siegesparaden waren sie kaum präsent, in den Reden General de Gaulles wurden sie kaum erwähnt.

Im Rahmen ihrer Demobilisierung kehrten 1.300 »Senegalschützen« am 21. November 1944 auf dem britischen Schiff »Circassia« nach Dakar zurück. Die allermeisten von ihnen waren aus deutscher Kriegsgefangenschaft im besetzten Frankreich befreit worden. Ihren Sold hatten die neuen Militärbehörden des »Freien Frankreich« seit Monaten zurückbehalten. Bereits vor dem Besteigen des Schiffes in Frankreich war es zu Streit gekommen, weil einige Soldaten darauf bestanden, in Frankreich und nicht erst in Senegal ausbezahlt zu werden.

Nach ihrer Ankunft in der Heimat brachte man sie im Camp Thiaroye in der Nähe der Hauptstadt unter. Hier kam es erneut zu Spannungen wegen des unbezahlten Solds. Nun sollten die »Senegalschützen« nämlich in der zentralafrikanischen Währung CFA-Francs statt in Französischen Francs ausbezahlt werden, aber zu einem Wechselkurs, der nur die Hälfte des offiziellen Kurses betrug. Dadurch wären sie um die Hälfte ihres Solds geprellt worden.

Die Spannungen entluden sich, als eine malische Einheit nach Bamako repatriiert werden sollte. Die Soldaten weigerten sich und erklärten, daß sie erst nach der Auszahlung ihres Soldes abreisen würden. General Marcel Dagnan, Kommandant der senegalesisch-mauretanischen Division, wurde herbeigerufen. Aber als er auf die Fragen der Soldaten keine Antworten gab, umzingelten sie seinen Wagen und versuchten, ihn umzukippen. Der General beschloß, die Revolte mit Gewalt niederschlagen zu lassen, und mobilisierte zwei Regimenter der »Senegalschützen« und eines der »Artillerie coloniale«. Unter der Behauptung, im Camp würden sich Nazis verstecken, wurde den Soldaten befohlen, das Lager zu beschießen.

Die angeblichen Rädelsführer verurteilte man zu Gefängnisstrafen zwischen einem und zehn Jahren. Fünf von ihnen starben in Haft. Die Nachricht über das Massaker verbreitete sich in ganz Afrika und sorgte für Empörung. Als der französische Präsident Vincent Auriol im März 1947 Senegal besuchte, wurden die überlebenden Häftlinge freigelassen. Aber die ihnen zustehende Veteranenrente erhielten sie nicht.

»Senegalschützen« wurden auch nach dem Krieg in den Kolonialkriegen Frankreichs eingesetzt, erst in Indochina und dann in Algerien. In ihrer Heimat brachte ihnen das Verachtung und Haß ein, weil sie sich in den Dienst der kolonialen Unterdrücker gestellt hatten. Erst 1964 wurde die letzte Einheit der »Senegalschützen« aufgelöst.

Die Aufarbeitung der Geschichte des Massakers von Thiaroye geht nur in ganz kleinen Schritten voran. 2014, am 70. Jahrestag, weihten die französischen und senegalesischen Präsidenten François Hollande und Macky Sall auf dem Friedhof von Thiaroye einen Gedenkstein ein, aber mehr gab es nicht, schon gar nicht ein Schuldbekenntnis oder eine Entschuldigung. In der Zeitung »Le Monde« stellte 2018 der Sohn eines »Senegalschützen«, der zu den Führern des Aufruhrs vom 1. Dezember 1944 gehört hatte, verbittert fest, daß die Militärbehörden seinen Vater in ihren Akten immer noch als »Deserteur« führten und daß sein Leichnam angeblich »unauffindbar« sei.

Am 18. Juli 2024 hat die Veteranenabteilung das französischen Armeeministeriums beschlossen, die 1944 in Thiaroye ums Leben gekommenen Soldaten als »Für Frankreich gefallen« anzuerkennen und den Angehörigen von sechs von ihnen – stellvertretend für alle – eine Urkunde darüber zu überreichen. Aber auf eine Entschuldigung wartet man immer noch vergebens.

Vor wenigen Wochen hat der Franko-Senegalese Karfa Diallo, der im Lager Thiaroye geborene und aufgewachsene Sohn eines »Senegalschützen« im Namen eines Dutzend senegalesischer Bürgervereinigungen in einem Offenen Brief gefordert, daß der französische Staat in aller Form die Schuld für das Massaker übernimmt und sich dafür entschuldigt, daß der Prozeß der »Rädelsführer« neu aufgenommen wird, um ihre Unschuld festzustellen, und daß ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß der Nationalversammlung die Geschichte des Massakers aufarbeitet und die tatsächliche Schulfrage klärt.