Demonstrationen in Frankreich vereinen Unzufriedene jeglicher Art
Gegen Impfung, gegen Sanitär-Paß, gegen alles von oben
In Paris und mehr als 150 weiteren Städten des Landes haben am Samstag 237.000 Menschen an Demonstrationen gegen die Corona-Impfmaßnahmen, den Sanitär-Paß und dessen Konsequenzen für das Leben der Franzosen teilgenommen. Es war bereits der vierte Aktionstag, und die Beteiligung zeigt weiter steigende Tendenz, denn am ersten Tag waren nach Angaben des Innenministeriums 110.000 Menschen auf die Straße gegangen, am zweiten 161.000 und am dritten 205.000.
Am vergangenen Donnerstag hat der Verfassungsrat zu den Maßnahmen der Regierung Stellung genommen und dabei wurden die Hoffnungen der Impf- und Paß-Gegner zunichte gemacht, das die »Weisen« sie als unvereinbar mit den Grundrechten verurteilen. Der Verfassungsrat hat im Gegenteil die Maßnahmen der Exekutive als angemessen, zumutbar und im Interesse aller Franzosen bewertet.
Damit müssen seit dem gestrigen Montag und zunächst bis 15. November nicht nur die Besucher von Kinos und Theatern, von Kultur- und Sportveranstaltungen oder von Schwimmbädern und Fitnessklubs sowie die Passagiere von Flugzeugen oder Fernzügen, sondern nun auch die Gäste von Cafés, Bistros und Restaurants – sowohl innen als auch auf der Terrasse – einen Sanitärpaß vorweisen, der ausweist, daß sie entweder geimpft sind oder erst kürzlich mit negativem Ergebnis getestet wurden.
Auch wer aus dem Ausland nach Frankreich einreist, muß über einen solchen Nachweis verfügen. Zu den Maßnahmen gehört aber auch ab September eine Impfpflicht für alle Mitarbeiter im Gesundheitswesen. Bei denen, die sich dieser Impfpflicht verweigern, wird der Arbeitsvertrag zunächst ausgesetzt und die Gehaltszahlung eingestellt. Bleiben sie dabei, droht die Entlassung.
Die Protestdemonstrationen wenden sich gegen diese vermeintliche Einschränkung der persönlichen Rechte und Freiheiten. Von einer moralischen Verpflichtung, durch die Impfung nicht nur sich, sondern auch die Mitmenschen zu schützen, wollen sie nichts wissen. Die Regierung setzt auf die 54 Prozent der Franzosen, die bereits geimpft sind oder sich noch impfen lassen wollen. Das ist allerdings eine der niedrigsten Zustimmungsraten in Westeuropa. Da hilft auch wenig, daß der Gesundheitsminister den 200.000 Menschen, die vor einer Woche demonstriert haben, die 500.000 gegenüberstellt, die sich am selben Tag haben impfen lassen.
Der „harte Kern“ der Impfgegner liegt unterschiedlichen Umfragen zufolge bei 16-23 Prozent der erwachsenen Franzosen. Damit ist fraglich, ob die Schwelle von 80 Prozent geimpfte Einwohner erreicht werden, die für eine kollektive Immunität nötig sind.
Die Forderung nach Freiheit ist der kleinste gemeinsame Nennen der sehr vielfältig zusammengesetzten Bewegung. Die Losungen reichen von »Mein Körper, meine Entscheidung, meine Freiheit« bis zu »Nein zum Sanitär-Paß«, geschrieben mit SS-Runen. Das erinnert an eine unheilvolle Vergangenheit, ebenso wie Demonstranten mit einem gelben Stern auf der Brust und der Inschrift »Nicht geimpft«. Zur politischen und sozialen Zusammensetzung der Bewegung sagt die Politikwissenschaftlerin Marie-Claire Villeval von der Universität Lyon: »Durch die Krisensituation der Corona-Pandemie kommen Zweifel und Unzufriedenheiten jeglicher Art zusammen und machen sich im Protest gegen die Impfpolitik der Regierung Luft.«
Die meisten Protestierenden gehörten zur Schicht der sozial benachteiligten und schlecht ausgebildeten Franzosen, die besonders empfänglich für Fake-News und Verschwörungstheorien sind. »Die haben schon lange den Glauben an die Politiker und die Medien, aber auch an Wissenschaftler, Mediziner oder andere Autoritäten verloren und lehnen alles ab, was ‚von oben‘ kommt.«
In diesem Sinne ist es auch nicht verwunderlich, daß durch die jetzigen Proteste die Bewegung der »Gelben Westen« einen neuen Aufschwung bekommen hat. Für Emmanuel Macron und seine Aussichten bei der Präsidentschaftswahl 2022 dürfte all das negative Folgen haben. So kalkulieren wohl auch seine faschistische Herausforderin Marine Le Pen und der selbsternannte »Spitzenkandidat der Linken« Jean-Luc Mélenchon, die es zwar vermeiden, mit zu demonstrieren, aber ihre Unterstützung für die Proteste bekunden.
Die Französische Kommunistische Partei (PCF) und die Gewerkschaft CGT befürworten die Impfungen, aber ohne Zwang und Strafandrohung, und treten angesichts der komplizierten Situation vor allem für grundlegende Verbesserungen im Gesundheitswesen ein, sowie für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne für die im Gesundheitswesen Beschäftigten. Außerdem fordern sie die Aufhebung der Patente für die Impfstoffe, so daß die Vakzine unter günstigen Bedingungen auch in anderen Ländern für die bisher benachteiligten Entwicklungsländer hergestellt werden können und somit die Pharmakonzerne nicht noch weitere Milliarden an der Pandemie verdienen.
In einer vor wenigen Tagen veröffentlichten CGT-Erklärung heißt es: »Die Corona-Pandemie hat die Grenzen und verheerenden Konsequenzen der seit Jahrzehnten verfolgten liberalen Politik deutlich gemacht, die einzig auf den Profit und die Interessen des Kapitals ausgerichtet ist. Wir sind Zeugen, wie einmal mehr bewußt und entschlossen neue Zwänge und neue Ablenkungsmanöver erfunden werden, um die wiederholten Mißerfolge bei der Bewältigung der Pandemie zu verschleiern. Die jüngsten dieser Maßnahmen sind die Ausweitung der Sanitär-Paß-Pflicht und der Impfzwang für ganze Berufsgruppen.«
PCF-Nationalsekretär Fabien Roussel hat dazu aufgerufen, »die Impfung zu einem Anliegen von nationaler und internationaler Bedeutung zu machen«, und er vertritt die Auffassung, sich impfen zu lassen sei »eine Frage der Solidarität mit seinen Mitbürgern«.
Darüber hinaus regt Fabien Roussel die Schaffung eines »Airbus der Impfstoffe«an und sagt: »Nach dem gleichen Modell, wie die EU-Staaten den Airbus geschaffen haben, nach dem gleichen Modell, wie die Europäische Weltraumorganisation ESA geschaffen wurde, um in den Weltraum zu fliegen, sollten wir unsere Kräfte bündeln und eine europäische Impfstoffagentur schaffen, die den Impfstoff, aber auch die Impfstoffbehälter herstellt. Heute liegt die Produktion von Impfstoffen in den Händen der großen Pharma-Konzerne, und nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage sind sie es, die die Preise und damit die Höhe ihrer Gewinne festsetzen.«