»Nicht das Geringste gelernt«
Eine bevorstehende Bodenoffensive im Gazastreifen droht einen Flächenbrand in Nah- und Mittelost auszulösen
Mit Angriffen auf den Gazastreifen reagiert Israel auf das furchtbarste Massaker im Nahostkonflikt seit dem Massaker von Sabra und Schatila im Jahr 1982; Hamas-Milizionäre ermordeten am Wochenende über tausend israelische Zivilisten. Bei Israels Angriffen auf den Gazastreifen wiederum wurden bis zum sechsten Tag des neuen Krieges mehr als 1.400 Menschen getötet. Daß Israel die 2,3 Millionen Menschen im Gazastreifen von Strom, Nahrung und Wasser abschneidet, wird von Menschenrechtlern als Kriegsverbrechen eingestuft. Die Kämpfe beginnen inzwischen auf Syrien und auf den Libanon auszugreifen. In Israel mahnt ein prominenter Kolumnist, es gelte die Gewaltspirale zu durchbrechen.
Das Massaker
der Hamas
Mit den Angriffen reagiert Israel auf den Massenmord an israelischen Zivilpersonen, den Hamas-Milizionäre am vergangenen Samstag in Orten unweit der Grenze zum Gazastreifen verübten, darunter mehrere Kibbuzim. Allein auf einem Musikfestival in der Negev-Wüste brachten sie bis zu 260 überwiegend junge Menschen um; insgesamt kamen bislang rund 1.300 Israelis zu Tode, davon mehr als 1.000 Zivilisten. Über 3.000 wurden verletzt; mutmaßlich rund 150 wurden in den Gazastreifen entführt, wo sie weiterhin festgehalten werden, sofern sie nicht bei Luftangriffen ihr Leben verloren.
Das Massaker ist das wohl furchtbarste im Rahmen des Nahostkonflikts seit dem Massaker von Sabra und Schatila, bei dem Mitte September 1982 christliche libanesische Milizen in einem Flüchtlingslager, das von israelischen Soldaten umstellt war, Palästinenser und libanesische Schiiten ermordeten. Die Zahl der Todesopfer ist bis heute nicht genau bekannt; der Nahostexperte Robert Fisk schätzte sie auf 1.700.
Kein Wasser,
kein Strom
Auf das Massaker hat die israelische Regierung reagiert, indem sie zunächst eine komplette Abriegelung des Gazastreifens verhängte: Strom- sowie Wasserleitungen wurden gekappt, die Lieferung von Lebensmitteln und Treibstoffen wurde unterbunden. Die Lage der Menschen in dem bereits seit 2007 abgeriegelten Gebiet war schon zuvor desolat; von den rund 2,3 Millionen Einwohnern waren zuletzt nach Angaben der UNO 63 Prozent von ausländischer Hilfe abhängig, 81 Prozent lebten in Armut. Annähernd eine halbe Million hat seit dem 7. Oktober keinerlei Lebensmittelrationen mehr erhalten. Das einzige Kraftwerk mußte wegen Treibstoffmangels am Mittwoch den Betrieb einstellen.
Am Donnerstag teilte das Rote Kreuz mit, auch die Generatoren, die vor allem Krankenhäuser mit Notstrom versorgen, liefen nun nur noch wenige Stunden. Das größte Krankenhaus des Gebiets, das mittlerweile wohl auch nicht mehr über Strom verfügt, ist längst überfüllt und kann keine Verletzten mehr aufnehmen. Human Rights Watch stuft das Abschneiden des Gazastreifens von jeglicher Versorgung explizit als Kriegsverbrechen ein. Energieminister Israel Katz lehnt jegliche humanitäre Hilfe ab: »Bis die israelischen Entführten nach Hause zurückgebracht sind, wird kein elektrischer Schalter eingeschaltet, kein Wasserhydrant geöffnet und kein Tankwagen einfahren.«
Ein Flächenbrand
Durch Israels Angriffe auf den Gazastreifen wurden bis einschließlich Donnerstag laut dem Gesundheitsministerium in Gaza mehr als 1.400 Palästinenser getötet; über 6.200 wurden verletzt. Die Angriffe dauern an. Die Streitkräfte bereiten sich laut Angaben eines Armeesprechers zugleich auf eine Bodenoffensive im Gazastreifen vor, »falls dieses von der politischen Führung entschieden wird«. Die Entscheidung sei noch nicht gefallen, heißt es zwar; mit einer Bodenoffensive wird allerdings weithin gerechnet.
Schon in den vergangenen Tagen nahmen zudem tödliche Gefechte zwischen israelischen Truppen und der libanesischen Hizbollah zu. Am Donnerstag bombardierte Israel schließlich auch syrische Flughäfen; in Damaskus und in Aleppo wurden die Landebahnen zerstört, der Flugbetrieb mußte eingestellt werden.
Starten die israelischen Streitkräfte die Bodenoffensive in Gaza, wird mit weiteren Angriffen der libanesischen Hizbollah gerechnet; es droht ein Flächenbrand im gesamten Nahen Osten.
»Ein grausamer Preis«
Während die Kämpfe eskalieren und die Zahl der Todesopfer stündlich steigt, mahnen in Israel noch vereinzelte Stimmen, die Gewaltspirale nicht weiter anzuheizen, sondern sie zu durchbrechen, um irgendwann einmal zu einer Lösung des zugrunde liegenden Konflikts zu gelangen. So warnt etwa Gideon Levy, Kolumnist der renommierten Tageszeitung »Haaretz«, man müsse Rücksicht auf die Zivilbevölkerung im Gazastreifen nehmen; diese habe schon in der Vergangenheit unter zahllosen willkürlichen Bombardements gelitten und dürfe nicht noch härteren Angriffen ausgesetzt werden.
Das gelte ungeachtet des Schocks über das Massaker der Hamas auch deshalb, weil Israels Vorgehen gegen die Palästinenser in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten gescheitert sei. Man habe gedacht, man könne Unruhen mit Repression niederhalten, und »arrogant« geglaubt, es sei möglich, »jeden Versuch einer diplomatischen Lösung zurückzuweisen«, schreibt Levy. Jetzt bestätige sich aber, daß sich Sicherheit auf diesem Weg eben nicht erreichen lasse: Es sei »unmöglich, zwei Millionen Menschen auf Dauer [im Gazastreifen, d.Red.] einzusperren, ohne einen grausamen Preis zu zahlen«.
Levy ist freilich pessimistisch. »Die Drohungen, ‚Gaza zu planieren‘, zeigen nur eines«, schreibt der »Haaretz«-Kolumnist: »Wir haben nicht das Geringste gelernt.«