Ausland19. September 2023

Flüchtlinge im Netz der Geopolitik

von Karin Leukefeld

Ende August kam es in der Republik Zypern zu Protesten gegen Flüchtlinge in der Stadt Paphos. Es gab Schlägereien, Geschäfte der Flüchtlinge wurden zertrümmert. Medien berichteten, rechte Gruppen hätten den Protest organisiert. Bewohner Zyperns erklärten, die Aggressionen richteten sich vor allem gegen afrikanische Flüchtlinge, die über die Türkei und den türkisch besetzten Teil Nordzypern über die grüne Grenze in die Republik Zypern kämen. Hinzu kommen Hunderte Flüchtlinge aus Syrien, Palästinenser und Libanesen, die über das Mittelmeer im Süden der Insel anlanden.

In der Türkei werden syrische Flüchtlinge attackiert und so manche werden abgeschoben in die Gebiete Syriens, die von Al-Qaida-nahen bewaffneten Gruppen im Norden und Nordwesten kontrolliert werden. Und im Libanon wachsen die Vorbehalte gegenüber den mehr als 1 Millionen Flüchtlingen aus dem Nachbarland. Beim illegalen Grenzübertritt aus Syrien geraten Flüchtlinge in Minenfelder.

Das Beispiel Syrien

Angesichts ihrer von Krieg und Krisen zerstörten Heimat Syrien suchen auch zwölf Jahre nach Beginn des Krieges in dem Land noch immer Menschen nach neuen Lebensperspektiven für sich, vor allem aber für ihre Kinder. Die einen fliehen vor dem Militärdienst, der in Syrien obligatorisch ist. Obwohl sich die Kämpfe weitgehend beruhigt haben, flammen immer wieder Unruhen auf. Die meisten Flüchtlinge suchen im nahen und fernen Ausland Arbeit, Ausbildung, ein sicheres Zuhause, um eine Familie zu gründen und genug zu verdienen, um die Eltern in Syrien unterstützen zu können. Je nach finanziellen Möglichkeiten kaufen sie eine Passage, die von Schmugglern kontrolliert wird.

Es geht mit dem Bus oder Flugzeug von Damaskus oder Aleppo in den Libanon. Dort erhalten Flüchtlinge durch Mittelsleute ein Visum für ein EU-Land, bevorzugt ist Deutschland. Dann reisen sie, oft auch mit Kindern, mit dem Flugzeug nach Brüssel, Frankfurt, Berlin oder Stockholm, um sich in ein Asylverfahren einschleusen zu lassen. Alles inklusive kostet das bis zu 20.000 Euro.

Wer nicht so viel Geld hat, kauft einen Platz auf einem der oftmals seeuntauglichen Boote, um von Tripoli im Nordlibanon über das Mittelmeer in die Republik Zypern, auf eine griechische Insel oder nach Italien zu gelangen.

Manche Flüchtlinge versuchten, mit einem Flug von Dubai nach Belarus zu gelangen, um von dort über die grüne Grenze nach Polen und von dort nach Deutschland geschleust zu werden. Sein Bruder habe mehr als 14 Tage in einem Hotel in Minsk gewartet, bis man ihn zurückgeschickt habe, erzählt M., ein Fahrer, der seine Gäste zwischen Beirut und Damaskus chauffiert. Er habe ihm gesagt, er solle es lassen, meint M., doch sein Bruder habe nicht auf ihn gehört. 6.000 US-Dollar habe ihn die Tour gekostet – »was hätten wir mit dem Geld hier in Syrien machen können!«

Viele junge Männer nehmen den Bus, eine Schmuggelroute oder das Flugzeug nach Erbil, der Hauptstadt der kurdischen Autonomieregion im Norden des Irak. Von dort versuchen sie, nach Europa zu gelangen. Bis das klappt, arbeiten sie und können so zur Finanzierung ihrer Emigration beitragen. Wer während des Krieges Zuflucht in Jordanien suchte und fand, ist möglicherweise weiter gereist nach Ägypten und von dort nach Libyen, um mit einem der vielen illegalen Boote die Überfahrt nach Italien zu wagen.

Nun werden viele dieser Menschen in der verheerenden Flut ums Leben gekommen sein, ihre Spur verliert sich. Ihre Familien werden nie erfahren, was geschah.

Falsche Hoffnung

Wer vom Libanon mit einem Boot die Überfahrt nach Zypern überlebt, schöpft Hoffnung. Die Republik Zypern ist Mitglied der Europäischen Union, die Insel könnte für die Menschen die Chance zum Absprung in die Kernländer der EU sein.

Die Republik Zypern hat offiziell rund 1,24 Millionen Einwohner. Die Zahl der asylsuchenden Flüchtlinge ist seit 2002 auf mehr als 93.000 angestiegen. Damit ist die Republik Zypern das Land der EU, das pro Einwohner die meisten Flüchtlinge aufgenommen hat. Und weil das Land den Anforderungen zur Versorgung der Flüchtlinge nicht mehr gerecht werden kann, will Zypern diejenigen abschieben, die keine Perspektive auf einen Aufenthaltsstatus haben. Das betrifft besonders diejenigen, die aus dem Libanon die gefährliche Fahrt über das östliche Mittelmeer überstanden haben.

Wo immer sich die Menschen auch hinwenden, die aus Syrien fliehen, sie alle sind mit den gleichen Problemen konfrontiert. Sie müssen Geld für Schlepper, Unterhalt und Unterkunft aufbringen. Sie brauchen Geld, um an ein Visum zu kommen, Geld, um einen Platz in einem Boot über das Mittelmeer oder in einem anderen Transportmittel – legal oder illegal – zu finanzieren. Es gilt Grenzen und Zölle, Polizeikontrollen mittels Bestechung zu überwinden. Wird man krank, bleibt man auf der Strecke. In einem Lager, in einer illegalen Unterkunft, auf der Straße.

Landnahme und Besatzung

EU-Regierungen und die EU-Kommission mahnen und warnen. Hilfsorganisationen helfen und werben um Geld für die Hilfe. Medien und so genannte Nicht-Regierungsorganisationen liefern die Darstellung der desolaten Lage von fliehenden Menschen. Staatliche Hilfsorganisationen oder westlich gespeiste Finanzfonds werden in den Gebieten aktiv, die von Gruppen kontrolliert werden, die – anders als Syrien – politisch und wirtschaftlich unterstützt werden sollen.

Eine Hilfsorganisation aus Katar baut beispielsweise neue Siedlungen, Krankenhäuser und Schulen entlang der syrisch-türkischen Grenze, die von der Al-Qaida-nahen Hayat Tahrir al-Scham (HTS), der Türkei und Türkei-treuen bewaffneten Verbänden kontrolliert werden.

Anfang September teilte die »Qatar Charity« mit, man habe den Grundstein für den Bau einer neuen Stadt bei Al Bab, nördlich von Aleppo gelegt. »Al Karama«, »Würde« soll die Stadt heißen, die mit dem Geld von »Wohltätern« aus dem Emirat Katar finanziert werde, so die Mitteilung von »Qatar Charity«. Der Bau werde in Kooperation mit der türkischen Provinz Gaziantep erfolgen, die Stadt solle für 8.500 syrische Inlandsvertriebene zur neuen Heimat werden. Bei einer Veranstaltung seien innerhalb von drei Stunden 33 Millionen Qatari Rial gesammelt worden, umgerechnet etwa 9,4 Millionen Euro. Schon zuvor hatte »Qatar Charity« die Stadt »Al Amal« (»Hoffnung«) im Norden Syriens gebaut, in der mehr als 8.800 Inlandsvertriebene angesiedelt wurden.

Al Bab liegt auf syrischem Territorium. Eine Vereinbarung mit der syrischen Regierung ist nicht bekannt. De facto wird auf diese Weise eine Mauer aus fremdkontrollierten Siedlungen zwischen Syrien und der Türkei errichtet, auf syrischem Territorium. Diese Art von »Wohltat« spaltet Syrien und seine Bevölkerung ebenso, wie die Besatzung der syrischen Ressourcen von Öl, Baumwolle und Weizen durch US-amerikanische Truppen.

Syrien wird seines Territoriums und seiner Rohstoffe beraubt, die Bevölkerung wird gespalten. Nach Krieg und Kriegsfolgen stehen diese Art von Landnahme und Besatzung am Anfang der elenden Spirale von Flucht und Vertreibung.

Einhaltung des Internationalen Rechts, der staatlichen Souveränität und territorialen Integrität des syrischen Staates, würden das stoppen. An die Stelle von Besatzung und Landnahme würden Verhandlungen treten. Statt Sanktionen gäbe es politische und finanzielle Unterstützung.

Das aber ist politisch nicht gewollt und so spenden reiche Wohltäter, und Hilfsorganisationen betteln um Geld, um Hilfe und Almosen für die Flüchtlinge und die eigene Arbeit finanzieren zu können. Die großen Geldgeber für die »humanitäre Hilfe für Syrien« – USA, Deutschland und die Europäische Union – verbinden mit ihren Geldzuwendungen Bedingungen, wie und wofür das Geld eingesetzt werden darf. Für die von Regierungsgegnern kontrollierten Gebiete, für Flüchtlinge in Lagern in der Türkei, Libanon und Jordanien gibt es Geld. Nicht aber für diejenigen, die in ihre syrische Heimat zurückkehren möchten. Die Fluchtbewegung wird so nicht enden. Das Leben in Syrien wird blockiert.

Zerstörung von Lebensgrundlagen

Keine Region der Welt hat so lange und so viele Flüchtlinge gesehen, wie der östliche Mittelmeerraum. Die Vertreibung der Armenier und Assyrer Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts; die Vertreibung der Kurden seit 1930er Jahren; die Vertreibung der Palästinenser seit 1948; die Vertreibung von Libanesen während der Bürgerkriege 1958 und 1975-1990; die Vertreibung der Iraker mit den Golfkriegen 1980/88; 1990/91 und 2003 bis heute; die Vertreibung der Libyer 2011; die Vertreibung der Syrer seit 2011/12; die Vertreibung der Jemeniten seit 2016. Hinzu kommen Flüchtlinge aus Afghanistan, aus Afrika, die in dem einen oder anderen Land zwischen Pakistan und dem Mittelmeer, in Nordafrika oder den südeuropäischen Ländern gestrandet sind.

Auf der Suche nach neuen Perspektiven geraten die fliehenden Menschen in ein Netz von Schmugglern und Grenzen, bei dem Lager, in denen Almosen verteilt werden, häufig die Endstation sind. Darüber legt sich ein Netz von Interessen regionaler staatlicher und nicht-staatlicher Akteure, denen es nicht um die Menschen, sondern um Boden und Rohstoffe, um Kontrolle von Transportwegen geht.

Weiter darüber spannt sich ein Netz von Kriegen und den Folgen dieser Kriege, die Länder und die Lebensgrundlagen der dort lebenden Menschen zerstören. Diese Kriege sorgen für Profit für den Militärisch-Industriellen Komplex aus Rüstungsindustrie, Militär und Politik mit dem Ziel, die weitere Anhäufung von Macht und Profit zu sichern. Parteien, Regierungen, Industrie und Handel, Wissenschaft, Forschung, Bildung und Medien und selbst das internationale Recht sollen diesem Ziel unterworfen werden.

Die Menschen, deren Länder dafür zerstört werden, sind viele und sie sterben früh. Sie sterben in den Kriegen und an den Folgen der Kriege. Sie werden krank und sind hungrig. Sie sterben bei Kämpfen mit anderen, die ihr Land und ihr Leben vor der Zerstörung schützen oder selber aus dem Netz ausbrechen wollen. Sie sterben auf der Flucht, in einem Lager oder im Mittelmeer.