Ausland22. März 2024

Kurz vor dem großen Krieg

Trotz anderer Beteuerungen könnten sich die Angriffe auf den Libanon zu einer zweiten Front für Israel entwickeln

von Manfred Ziegler

Beide Seiten in den Kämpfen an der Grenze zwischen Libanon und Israel erklären, einen offenen, umfassenden Krieg vermeiden zu wollen. Aber die militärische Eskalation geht weiter und die israelischen Drohungen, mit einer Bodenoffensive gegen die Hisbollah vorzugehen, werden regelmäßig laut – auch wenn echte oder vorgebliche Fristen immer wieder verstreichen. Der geplante israelische Angriff auf Rafah kann die Situation im Norden weiter verschärfen.

Was am 8. Oktober mit Angriffen der Hisbollah auf israelische Beobachtungsstationen entlang der Grenze zwischen dem Libanon und Israel begann, werde so lange andauern, wie die israelische Bombardierung des Gazastreifens anhalte, erklärte die Organisation wiederholt. Und tatsächlich herrschte auch an der Nordgrenze während des kurzen Waffenstillstands in Gaza im November Ruhe – vorübergehend.

Auf beiden Seiten der Grenze mußten zehntausende Einwohner wegen der andauernden Kämpfe ihre Ortschaften verlassen. In Israel mußten Geschäfte, Cafés und Buchläden ebenso Verluste hinnehmen wie große Unternehmen, deren Produktionsanlagen beschädigt oder zerstört wurden. Die Landwirtschaft wird in Mitleidenschaft gezogen, weil Arbeitskräfte fehlen und militärische Sperrgebiete nötige Arbeiten unmöglich machen. Um 70 Prozent reduziert waren auf israelischer Seite Kreditkartenumsätze im Vergleich zur Zeit vor dem Krieg – und viele dieser Umsätze dürften durch Soldaten erfolgen.

Lange Zeit waren die Kämpfe auf einen schmalen Streifen entlang der Grenze beschränkt. Doch im Januar begann die israelische Luftwaffe, die Angriffe auf weitere Gebiete im Libanon und in Syrien auszuweiten. In Syrien griff sie Einrichtungen an, von denen es hieß, sie seien mit der Hisbollah verbunden. Und im Libanon tötete sie gezielt einzelne Kommandeure der Hisbollah, darunter den »Brigadekommandeur« Hassan Hussein Salami.

Die Hisbollah ihrerseits griff eine wichtige Einrichtung der israelischen Luftraumüberwachung (die »Meron-Basis«) und das Nordkommando der israelischen Streitkräfte an. Teilweise führte sie ein Dutzend oder mehr Angriffe täglich durch.

Israelische Bomben und Raketen trafen zuletzt 100 Kilometer von der Grenze entfernte Ziele im Bekaa-Tal und führten zu einer heftigen Reaktion der Hisbollah. Mit Drohnen und 100 Raketen griff sie Ziele auf den Golan-Höhen an.

In einer Umfrage der Zeitung »Maariv« gaben 71 Prozent der Befragten an, Israel solle in einer »groß angelegten Militäraktion« gegen die Hisbollah vorgehen, diese Ergebnisse wurden in einer neuen Umfrage bestätigt. Der rechtsextreme Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir nutzt die Gelegenheit. Er warf dem israelischen Kriegsminister Joaw Gallant »Untätigkeit« vor und forderte: »Krieg jetzt!«

Die israelische Armee bereitet sich darauf vor. Generalstabschef Herzi Halevi erklärte im Februar: »Wir konzentrieren uns darauf, für einen Krieg im Norden vorbereitet zu sein.«

Ein offener Krieg hätte für beide Seiten verheerende Folgen. Um das zu vermeiden, gibt es nach Schritten der Eskalation immer wieder ruhigere Phasen. Mittlerweile ist aber – insbesondere mit den Angriffen tief im Libanon – eine Stufe der Eskalation erreicht, auf der jeder Fehler zu einem umfassenden Krieg führen kann. Auch eine massive Eskalation durch Israel – um zu versuchen, die Hisbollah von der Grenze zu vertreiben – oder durch die Hisbollah als Antwort auf eine mögliche Eskalation in Rafah ist nicht auszuschließen.

Die »Jerusalem Post« zitierte Ronan Cohen, einen Oberst der Reserve, mit den Worten: »Es ist der erste Krieg, in dem Israel es sich nicht leisten kann, an zwei Fronten zugleich zu kämpfen.«