Ansturm auf Arbeitsamt
Bei Quelle begann die größte Entlassungswelle in der Geschichte der alten Bundesrepublik
Während die Kanzlerin am Montag in Berlin den neuen Koalitionsvertrag für seine Orientierung auf »Wachstum« und seinen »sozialen Ausgleich« feierte, begann die größte Entlassungswelle seit Bestehen der alten Bundesrepublik. Was sich Anfang der 90er Jahre in ganz Ostdeutschland abspielte, erreicht nun eine westdeutsche Industrieregion. Eine Woche nach dem Aus für Quelle haben sich bei der Arbeitsagentur in Nürnberg bereits rund 800 arbeitslose Versandhaus-Mitarbeiter gemeldet. Bis zum Wochenende erwartet die Agentur die Registrierung von rund 4.000 ehemaligen Quelle-Beschäftigten.
Ein so großer Ansturm sei bisher einzigartig, sagt der Leiter des Amtes. Die Arbeitsagentur hat deshalb zur schnelleren Bearbeitung der Anträge eigens eine Außenstelle mit 150 Mitarbeitern im Quelle-Versandzentrum in Nürnberg eingerichtet. Sie soll zunächst eine Woche aufrechterhalten werden.
In der Region Nürnberg versuchen Kommunalpolitiker, sich dem Zusammenbruch eines weiteren Großunternehmens nach Grundig, Triumph-Adler und AEG entgegenzustemmen. Seit der Nachricht von der Schließung des 82 Jahre alten Traditionskonzerns würden Unternehmen in der Region fast täglich Jobangebote einreichen. »Das reicht von der einfachen Tätigkeit bis hin zur Spitzenposition«, erklärte der Oberbürgermeister der Stadt Fürth, Thomas Jung. Auch Vorschläge zur Weiterführung des Versandhauses würden eingereicht, berichtete Nürnbergs Oberbürgermeister Ulrich Maly. Darunter seien zwar Glücksritter, aber auch durchaus ernst zu nehmende Ideen, die auf ihre Umsetzung geprüft werden sollen.
Laut »Nürnberger Nachrichten« widersprechen sich Insolvenzverwaltung und Banken bei der Darstellung der Ursachen für die Schließung von Quelle. Insolvenzverwalter Klaus Hubert Görg hatte am Montag vergangener Woche angegeben, eine Vorfinanzierung für die Geschäftstätigkeit des Konzerns ab 1. Januar 2010 werde von den Banken abgelehnt. Die Zeitung zitierte am Sonnabend aber u.a. BayernLB-Chef Michael Kemmer, der seine Bereitschaft zu Verhandlungen mit Investoren über dieses sogenannte Factoring erklärte. Laut »Nürnberger Nachrichten« kündigte Gesamtbetriebsratschef Ernst Sindel angesichts der Widersprüche an: »Wir werden in Übereinstimmung mit der Staatsregierung und mit der Gewerkschaft ver.di darauf dringen, Licht in das Dunkel der Verhandlungen zu bringen.« Notfalls wollten die Beschäftigtenvertreter »juristisch klären lassen, ob und wie weit sie Einblick in den Verkaufsprozeß erlangen können«.
Am Montag berichtete »Die Welt«, daß auch den 17 ausländischen Quelle-Tochtergesellschaften – vor allem in Osteuropa – der Kollaps droht. Die Gesellschaften, darunter Quelle Österreich, seien nur noch eingeschränkt lieferfähig, weil die Lager nicht mehr ausreichend gefüllt seien. Es drohten zahlreiche Folgeinsolvenzen. Durch die Entlassungen in Nürnberg fällt auch die Infrastruktur für die Auslandstöchter weg. Dem Bericht zufolge steht das Quelle-Versandzentrum Leipzig, das den Großteil der Bestellungen für das Ausland abwickelte, ebenfalls vor der Schließung. Ein Käufer habe sich nicht finden lassen. (jW/ZLV)