Ausland05. November 2022

Die große Konstante:

»Sozialismus chinesischer Prägung«

Rückblick auf den 20. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas

von Wolfram Adolphi

Der von Partei- und Staatschef Xi Jinping auf dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas am 16. Oktober 2022 vorgetragene Bericht steht unter der Überschrift »Das große Banner des Sozialismus chinesischer Prägung hochhalten und vereint für den umfassenden Aufbau eines modernen sozialistischen Landes kämpfen«. Es ist dies ein komplexes Programm der Gesellschaftsentwicklung, dargestellt in 15 Kapiteln. Nur Weniges kann hier herausgegriffen werden.

»Sozialistische Marktwirtschaft« und »neues Entwicklungsgefüge«

In Kapitel 4 des Berichts an den Parteitag geht es um die »materiellen und technologischen Grundlagen«, ohne die sich »die umfassende Vollendung des Aufbaus eines großen und modernen sozialistischen Landes nicht verwirklichen lassen« werde. Die »Reform hin zur sozialistischen Marktwirtschaft« müsse »fortgesetzt« werden, an der »Außenöffnung auf hohem Niveau« sei »festzuhalten«. Es brauche ein höheres Tempo bei der »Ausgestaltung des neuen Entwicklungsgefüges«, in dem »der große inländische Wirtschaftskreislauf die Hauptrolle spielt und der inländische und der internationale Kreislauf einander als Doppelkreislauf fördern«.

»Sozialistische Marktwirtschaft« als Gleichzeitigkeit von »gemeineigener« und »nicht-gemeineigener« Wirtschaft, die auf je eigener Grundlage gefördert und entwickelt werden sollen: Das ist eines der zentralen Merkmale des »Sozialismus chinesischer Prägung«.

Dabei ist die Frage nach dem genauen Anteil der beiden Formen an der wirtschaftlichen Gesamtleistung nicht so ohne weiteres zu beantworten. Statistiken zeigen, dass der Anteil der privatwirtschaftlichen Unternehmen am Gesamtumsatz in der Zeit von 2011 bis 2021 von vier auf 19 Prozent gestiegen ist und der Anteil des Privatsektors am Marktwert der 100 größten börsennotierten chinesischen Unternehmen sogar von acht auf 50 Prozent. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass in China als Staatsunternehmen bezeichnete Firmen sich nicht unbedingt vollständig oder auch nur mehrheitlich in staatlicher Hand befinden müssen. Oft geht es um Joint Ventures aus staatlichen und privaten Eigentümern.

Aber es sind die jetzt entstandenen – und nicht immer bis hinters Komma zu bestimmenden – Proportionen wohl auch nicht das Entscheidende. Entscheidend scheint vielmehr, dass Xi Jinping in seinem Bericht sie alle gemeinsam in der Verantwortung sieht, »die entscheidende Rolle des Marktes bei der Ressourcenallokation« zur Geltung zu bringen. Es sei »die Reform des staatseigenen Kapitals und der staatseigenen Unternehmen« dahingehend »zu vertiefen«, dass deren »Kernwettbewerbsfähigkeit« wachse, und zugleich müsse »das Umfeld für die Entwicklung privater Unternehmen […] optimiert«, und sichergestellt werden, dass »die Eigentumsrechte der Privatunternehmen sowie die Rechte und Interessen der Unternehmer […] im Rahmen der Gesetze geschützt werden, um die Privatwirtschaft […] zu entwickeln und zu stärken«.

Es sei ein »modernes Unternehmenssystem chinesischer Prägung« geschaffen worden, das es nun »zu vervollkommnen« gelte, und es müsse der »Unternehmergeist« gefördert werden, um »rasch Unternehmen von Weltklasse aufzubauen«.

Weitere Stichworte sind etwa »Entwicklung der Kleinst-, kleinen und mittleren Unternehmen«, »Verwaltungsverschlankung«, »Vervollkommnung« der »grundlegenden Institutionen der Marktwirtschaft zum Beispiel in Bezug auf den Schutz der Eigentumsrechte, den Marktzugang, den fairen Wettbewerb und das Sozialkreditsystem« oder »Stärkung« der »strategisch richtungweisenden Rolle der staatlichen Entwicklungspläne« wie auch der »Koordination und Abstimmung von Finanz- und Geldpolitik« und schließlich der »Inlandsnachfrage«.

Und um Regulierung geht es: Man werde den »Kampf gegen Monopole und Wettbewerbsverzerrung intensivieren« und »Lokalprotektionismus sowie Monopole in Bezug auf die Ausübung administrativer Befugnisse beseitigen«, damit die »gesunde Entwicklung des Kapitals gesetzesgemäß standardisiert und angeleitet wird«.

Etappenziel 2035

Liegt in all dem etwas ganz Neues, Sensationelles, Aufsehenerregendes? Westliche Lese- und Beurteilungsgewohnheiten sind auf so etwas ausgerichtet, sind auf Vier-Jahres-Wahlrhythmen fixiert, fordern den schnellen Wechsel als angeblichen Qualitätsausweis, aber so etwas kann dieser Bericht nicht bieten. Er folgt dem langfristigen Ziel der »Zweimal hundert Jahre«.

Damit gemeint sind nicht tatsächlich 200 Jahre, sondern zwei Zielmarken: das Jahr 2021 als 100. Jahrestag der Gründung der Kommunistischen Partei und das Jahr 2049 als 100. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik. Das Jahr 2021 liegt hinter uns, und der Bericht bezeichnet das dafür ausgegebene Ziel, eine »Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand« zu errichten, als erreicht.

Das zweite Ziel wird im Bericht nicht mehr genau mit dem Jahr 2049 verbunden, sondern in zwei Abschnitte unterteilt. Das ist offensichtlich eine Reaktion auf die weltweiten Krisen der vergangenen Jahre. Die tiefgreifenden Wirkungen der Covid-19-Pandemie und die wachsende, offen auf Wirtschaftskrieg sowie auf fortgesetzte Provokationen in der Taiwan-, der Hongkong- und der Uigurenfrage setzende Feindseligkeit der USA und der NATO gegenüber der Volksrepublik China hinterlassen offensichtlich ihre Spuren. Mit der vom Westen beschworenen und von China abgelehnten »neuen Blockkonfrontation« haben sich die internationalen Bedingungen für Chinas Weg verschlechtert.

Dem wird nun in der Programmatik mit der Verschiebung von Prioritäten Rechnung getragen. Es ist – wie eingangs schon zitiert – der »große inländische Wirtschaftskreislauf«, der für die künftige Entwicklung die »Hauptrolle« spielen soll. Nein, es geht damit natürlich nicht zurück zum der Not gehorchenden »Auf die eigene Kraft vertrauen« der späten 1950er und frühen 1960er Jahre. Die chinesische Wirtschaft ist ungleich stärker als damals – damals erbrachte sie weniger als ein Prozent der Weltwirtschaftsleistung, heute sind es um die 18 –, und sie ist weltweit so eng verflochten, dass ein Zurück nicht zur Debatte stehen kann. Aber es werden Konsequenzen aus sichtbar gewordener Verwundbarkeit gezogen, und die bestehen auch in der Betonung sicherheits- und verteidigungspolitischer Vorhaben.

Der »strategische Gesamtplan« soll nun »in zwei Schritten« verwirklicht werden: Bis 2035 sei »die sozialistische Modernisierung im Wesentlichen zu verwirklichen«, und »bis zur Jahrhundertmitte« gelte es dann, »den Aufbau Chinas zu einem großen und sozialistischen Land zu vollenden, das reich, stark, demokratisch, kultiviert, harmonisch und schön ist«.

Was heißt das im Einzelnen? Beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung soll »das Niveau eines auf mittlerer Stufe entwickelten Landes erreicht« werden; »Industrialisierung neuen Typs«, »Informatisierung«, »Urbanisierung« und »landwirtschaftliche Modernisierung« sind weitere Schwerpunkte, ebenso der Aufbau eines »Rechtsstaats, einer rechtsstaatlichen Regierung und einer Gesellschaft mit Rechtsbindung«.

China solle zu einem »Land mit starkem Bildungswesen und starkem Fachkräftekontingent« werden wie auch zu einer »großen Wissenschafts- und Technologienation«, einem »starken Kulturland, einer großen Sportnation und einem Land mit gesunder Bevölkerung«. Das Leben der Chinesinnen und Chinesen solle »insgesamt glücklicher und schöner werden«.

Es liegt in der Logik der von ihm selbst beschworenen »neuen Blockkonfrontation«, dass der »Westen« auf den Bericht mit Alarmstimmung reagiert. Das sollte weniger voreingenommene Betrachter jedoch nicht daran hindern, die Frage zu stellen, warum aus dem Entwicklungsprogramm eines noch immer in vieler Hinsicht nicht in die Spitzengruppe der Länder der Welt gehörenden Staates unbedingt Konfrontation erwachsen muss. Sollten nicht vielmehr die menschheitlichen Chancen dieses Weges im Mittelpunkt stehen?

Hier ein paar Zahlen: Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf beträgt in den USA fast das Sechsfache von dem in China; der CO2-Ausstoß pro Kopf liegt in den USA doppelt so hoch wie in China; in den USA gibt es – bei einem fast gleich großen Staatsterritorium – fünfmal so viele Straßenkilometer und fast zwanzigmal so viele Schienenkilometer pro Kopf wie in China.

Warum sollte sich China verbieten lassen, bei diesen Parametern mit den USA gleichzuziehen? Und wenn es um den CO2-Ausstoß pro Kopf geht – warum sollte nicht ein gemeinsames Ringen um dessen Absenkung in Gang gesetzt werden, auf der Grundlage gemeinsam entwickelter und verwirklichter Maßstäbe im Lebensstandard?

Sozialismus und Marxismus

Wird über China gesprochen, stellen europäische Linke unterschiedlichsten Herkommens stets die Frage, ob denn nun »noch« von Sozialismus in China gesprochen werden könne und die kommunistische Partei »noch« das Recht habe, sich kommunistisch zu nennen – und immer stellt sich dann die Frage, was denn der Maßstab sein könnte, nach dem »wir« eine Antwort auf diese Fragen geben könnten. Wer in Europa und in der Welt hätte heute einen Erfahrungsvorsprung, der eine Antwort möglich macht? Und wer das Recht auf Deutungshoheit?

Die Kommunistische Partei Chinas lehnt seit langem jeden Anspruch auf eine internationale Führungsrolle ab; sie will niemandes »Vorbild« sein. Sie beansprucht die Führung in einem innerchinesischen Prozess, den sie Errichtung des »Sozialismus chinesischer Prägung« nennt, und alle, die an der Entwicklung der Menschheit als Ganzes interessiert sind, tun gut daran, diesen Prozess mit Neugier und Hoffnung zu verfolgen.

Ja, auch mit Hoffnung, denn ein sich nicht erfolgreich entwickelndes China wäre ein Alptraum für alle. Es geht um 1,4 Milliarden Menschen. Fast ein Fünftel der Menschheit.

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz stellte am 3.11.2022 in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« fest, dass sich der deutsche Umgang mit China verändern müsse, weil »sich China verändert«, und um diese Veränderung verständlich zu machen, führte er an, dass auf dem Parteitag »Bekenntnisse zum Marxismus-Leninismus« einen »deutlich breiteren Raum« eingenommen hätten als früher und »dem Streben nach nationaler Sicherheit, gleichbedeutend mit der Stabilität des kommunistischen Systems, und nationaler Autonomie […] mehr Bedeutung« beigemessen worden sei.

Ganz abgesehen davon, dass es seltsam anmutet, wenn jemand wie Scholz, der am 27. Februar 2022 eine mit einem großen Aufrüstungsprogramm untersetzte »Zeitenwende« verkündet hat, es einem anderen Land zum Vorwurf macht, dem »Streben nach nationaler Sicherheit« größere Bedeutung beizumessen als früher, ist die Bemerkung zum Marxismus-Leninismus einfach falsch.

Nur im Rückblick auf die vergangenen zehn Jahre wiederholte Xi Jinping noch einmal die von ihm oft benutzte Formel, wonach die Partei »weiterhin am Marxismus-Leninismus, den Mao-Zedong-Ideen, der Deng-Xiaoping-Theorie, den wichtigen Ideen des Dreifachen Vertretens und dem Wissenschaftlichen Entwicklungskonzept« festgehalten habe. Im Weiteren aber – und insbesondere im Kapitel 2 unter der Überschrift »Eröffnung neuer Perspektiven für die Sinisierung und den Zeitbezug des Marxismus« – ist nur noch vom Marxismus und ausdrücklich nicht vom Marxismus-Leninismus die Rede. Einem noch durch Parteischulen gebildeten Sozialdemokraten wie Olaf Scholz sollte der Unterschied aufgefallen sein.

Was aber bedeutet dieser Unterschied für die Kommunistische Partei Chinas? Das bleibt unerläutert. Vermuten lässt sich, dass mit der Berufung auf den noch nicht durch Andere interpretierten »ursprünglichen« Marxismus die Interpretationsspielräume für die heutige chinesische Parteiführung größer werden. Die »grundlegenden Prinzipien des Marxismus«, heißt es, müssten »mit den konkreten Gegebenheiten« Chinas und »der hervorragenden traditionellen chinesischen Kultur« verbunden werden, und unverändert müsse »der dialektische und historische Materialismus« Anwendung finden, dann werde es »auch in Zukunft gelingen, auf die großen Fragen, die Zeit und Praxis an uns herantragen, die richtigen Antworten zu finden und die schwungvolle Vitalität und sprühende Lebenskraft des Marxismus […] aufrechtzuerhalten.«

Ist es das, was der Westen mit »systemischer Auseinandersetzung« meint?

Von Wolfram Adolphi veröffentlichte die »Zeitung« in ihrer Ausgabe vom Samstag, 29.10.2022, einen Artikel über die außenpolitischen Aspekte des Parteitages.