Ausland30. November 2022

Auf Kosten Frankreichs

Berliner Regierungsberater wollen Frankreichs faktischen Ausschluß vom geplanten europäischen Luftverteidigungssystem aufheben: »Geschlossenheit« sei politisch zentral

von german-foreign-policy.com

Frankreichs faktischer Ausschluß aus der deutschen Initiative zum Aufbau eines europäischen Luftverteidigungssystems soll dringend revidiert werden. Dies fordert die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in einer neuen Stellungnahme. Demnach soll die European Sky Shield Initiative (ESSI), die Mitte Oktober von 15 Staaten Europas unter deutscher Führung lanciert wurde, um »Offensivfähigkeiten« ergänzt werden, die Paris stellen könne – zum Nutzen der französischen Rüstungsindustrie.

Die bisher vorgesehenen Luftverteidigungssysteme – IRIS-T SLM, Patriot, Arrow 3 – entstammen durchweg deutscher, israelischer oder US-amerikanischer Produktion. Französische Kritiker weisen darauf hin, daß die von Frankreich und Italien entwickelten Luftverteidigungssysteme SAMP/T und Aster Block 1 NT recht breite Entfernungsspektren abdeckten – und daß sie unter Umständen alle vorgesehenen Systeme aus Deutschland, Israel und den USA ersetzen könnten. Mit seiner aktuellen Auswahl verhindere Berlin den Aufbau einer eigenständigen europäischen Luftverteidigung – zugunsten des Profits der deutschen Rüstungsindustrie.

Unter deutscher Führung

Die Debatte über den Ausbau der deutschen bzw. europäischen Luftverteidigung ist bereits kurz nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine neu angestoßen worden. Im März wurden in der Bundesrepublik erste konkrete Vorschläge für nationale Maßnahmen unterbreitet. Bald war auch die Ausweitung des Vorhabens auf europaweite Dimensionen im Gespräch. Am 29. August räumte Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Prager Europarede »erheblichen Nachholbedarf (...) bei der Verteidigung gegen Bedrohungen aus der Luft und aus dem Weltraum« ein und teilte mit, die Bundesregierung werde »in den kommenden Jahren ganz erheblich in unsere Luftverteidigung investieren«. Dabei wolle Berlin seine Vorhaben »so ausgestalten, daß sich auch unsere europäischen Nachbarn daran beteiligen können«. »Ein gemeinsam aufgebautes Luftverteidigungssystem in Europa« sei »kostengünstiger und effizienter, als wenn jeder von uns seine eigene teure und hochkomplexe Luftverteidigung aufbaut«, erklärte Scholz. Zudem könne es als »hervorragendes Beispiel« für eine »Stärkung der europäischen Säule der NATO« dienen. Die aktuelle Luftverteidigung der Bundeswehr findet, wie die Streitkräfte bestätigen, »ausschließlich im NATO-Verbund statt«.

Die ESSI

Berlin ist es schließlich gelungen, den Ausbau der Luftverteidigung auf europäischer Ebene konkret einzuleiten. Am 13. Oktober unterzeichneten insgesamt 15 europäische Staaten eine Absichtserklärung über die Gründung der European Sky Shield Initiative (ESSI); beteiligt sind neben neun Staaten Ost- und Südosteuropas Deutschland, die Niederlande und Belgien, Britannien, Norwegen und Finnland. Nicht beteiligt ist Polen, das seine Flugabwehr in bilateraler Kooperation mit den USA ausbaut.

Damit hat die ESSI an der NATO-Ostflanke eine empfindliche Lücke. Um in Zukunft mit Blick auf eine etwaige Eskalation des NATO-Konflikts mit Moskau möglichst umfassend abwehrbereit zu sein, sollen dreierlei Abwehrsysteme beschafft werden. Eins soll für Schutz auf Entfernungen von bis zu 40 Kilometern sorgen; dafür ist das IRIS-T SLM-System vorgesehen, das von Diehl Defence in Süddeutschland hergestellt wird.

Ein zweites soll mittlere Entfernungen abdecken; dafür wird, wie berichtet wird, das US-amerikanische Patriot-System eingeplant, das ohnehin bereits verbreitet ist. Drittens wird ein System für große Entfernungen beschafft, das gegebenenfalls auch nuklearbestückte Raketen abwehren können soll – laut dem Generalinspekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn, insbesondere auch russische Raketen aus Kaliningrad.

Arrow 3

Als System für große Entfernungen hat die deutsche Regierung, wie seit März bekannt ist, das israelische Arrow 3 im Blick. Als Alternative gilt das US-amerikanische System THAAD (Terminal High Altitude Area Defense), das von Lockheed Martin hergestellt wird. Arrow 3 wird von IAI (Israel Aerospace Industries) zusammen mit Boeing produziert. IAI wiederum ist seit Jahren ein Kooperationspartner der deutschen Waffenschmiede Rheinmetall, unter anderem beim Bau kleiner Drohnen oder auch bei der Herstellung von Abwehrsystemen für Schiffe. Rheinmetall hat zudem die Heron 1-Drohne von IAI an den speziellen Bedarf der Bundeswehr angepaßt.

Außerdem ist IAI an der Entwicklung eines neuen Radarsystems für die Bundeswehr beteiligt, die unter der Federführung von Hensoldt, dem mittlerweile viertgrößten deutschen Rüstungskonzern, forciert wird, und hat nicht zuletzt den Auftrag zur Lieferung von 69 mobilen Radarsystemen an die Bundeswehr erhalten. Die Arrow 3-Beschaffung könnte Berichten zufolge allerdings an einem Veto der USA-Administration scheitern, die Mitspracherechte hat, weil das israelische System mit Geldern aus den USA entwickelt wurde. Arrow 3 gilt in Berlin als vorteilhaft, weil beste Kontakte zu IAI bestehen, weil der US-amerikanische Einfluß geringer wäre als bei THAAD – und weil das System schlicht billiger ist.

Europäische Alternativen

In Frankreich hat die deutsche Entscheidung für Arrow 3, auch wenn ihre Umsetzung noch nicht gewiß ist, massiven Unmut ausgelöst. In französischen Militärkreisen heißt es, es gebe eine europäische Alternative dazu – das französisch-italienische System Aster Block 1 NT, das die Fähigkeit habe, Raketen mit einer Reichweite von mehr als 1.500 Kilometern abzufangen, also »den wesentlichen Teil des russischen taktischen Arsenals«. Darüber hinaus gebe es mit dem ebenfalls französisch-italienischen Luftverteidigungssystem SAMP/T eines, das in der Lage sei, sowohl das deutsche IRIS-T SLM als auch die US-amerikanischen Patriot-Raketen zu ersetzen. Damit liege der Aufbau einer durchweg europäischen Luftverteidigung in Reichweite.

Daß die Bundesrepublik den Aufbau eines gemeinsamen europäischen Luftverteidigungssystems initiiert, dann aber die Einbindung französisch-italienischer Teilsysteme abgelehnt und stattdessen neben israelischen sowie US-amerikanischen einem deutschen Modell den Vorzug gegeben habe, belege, daß Berlin die eigene Waffenindustrie mehr am Herzen liege als »die Unabhängigkeit der Staaten Europas«. Diese Auffassung wird mittlerweile zusätzlich dadurch bestätigt, daß Washington Berichten zufolge keine Einwände gegen die Produktion von Patriot-Raketen in Deutschland hat.

»Frankreich einbinden«

Berliner Regierungsberater dringen nun darauf, es nicht bei Differenzen mit Paris und bei dem faktischen Ausschluß Frankreichs von der ESSI zu belassen. »Ohne Geschlossenheit«, heißt es in einer neuen Stellungnahme aus der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), »verliert auch die militärische Dimension an Kraft«. Wollten die Länder Europas »eine konsequente Verteidigung« aufbauen, dann müßten künftig »zumindest die zwei größten europäischen Nationen gemeinsam vorgehen«. Das erfordere freilich eine »Einbindung Frankreichs«.

Allerdings läßt auch die SWP keine Bereitschaft erkennen, vom Kauf der Luftabwehrsysteme aus israelischer, US-amerikanischer und insbesondere deutscher Produktion abzusehen und auf zumindest eines der französisch-italienischen Systeme zurückzugreifen. Stattdessen heißt es, es gebe »eine Möglichkeit«, Frankreich »im Bereich der Offensivfähigkeiten« einzubinden, die »zum Teil auch für eine bessere Verteidigung sorgen und bisher bei ESSI nicht ausreichend mitgedacht wurden«. Es handelt sich dabei also um zusätzliche Schritte, die den deutschen Profit nicht im Geringsten gefährden, allerdings das Gesamtsystem weiter verteuern – im Interesse der deutschen Rüstungsindustrie.