Ausland11. März 2022

Das nukleare Menetekel

von Armand Clesse 1)

Wie groß ist die Gefahr, dass der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine in einen Nuklearkrieg münden könnte, einen paneuropäischen oder gar einen interkontinentalen? Nuklearwaffen sind in den vergangenen Jahrzehnten stark in den Hintergrund gerückt, ja zum Teil geradezu in Vergessenheit geraten. Zumindest konnte kaum noch jemand sich vorstellen, dass es zu einer nuklearen Auseinandersetzung zwischen den beiden militärischen Supermächten Russland und USA kommen könnte.

Man machte sich Sorgen um die nukleare Aufrüstung Nordkoreas, um einen möglichen militärischen Konflikt zwischen den beiden atomaren Mächten Indien und Pakistan, um die eventuelle Entwicklung von Nuklearwaffen durch den Iran und damit längerfristig betrachtet einen Krieg mit Atomwaffen zwischen dem Iran und dem nuklearbewaffneten Israel. Zwischen den USA aber und zusätzlich noch Frankreich und Großbritannien auf der einen Seite und Russland auf der andern konnte man sich, nach dem Ende des Kalten Krieges, kaum eine nuklear-militärische Auseinandersetzung imaginieren, besonders da man durch Verträge die Zahl der Atomwaffen drastisch reduziert hatte und meinte, Wichtiges geleistet zu haben, um die gegenseitige Abschreckung sicherzustellen.

Das immer noch »unsichere Gleichgewicht des Schreckens«2)

Der Konflikt über die Ukraine aber ruft zumindest den politischen und militärischen Verantwortlichen brutal und schmerzhaft ins Gedächtnis, dass sich die Welt nach wie vor am Rande des nuklearen Abgrundes befindet. Niemand kann wissen oder auch nur erahnen, was auf einen möglichen Einsatz von russischen nuklearen Gefechtsfeldwaffen, etwa gegen Kampfflugzeuge, die auf NATO-Gebiet stationiert wären, aber für einen Einsatz über der Ukraine, und sei es mit ukrainischen Piloten vorgesehen wären, erfolgen würde. Würde dann die NATO mit ähnlichen Waffen gegen russische Streitkräfte reagieren oder sogar den Konflikt auf eine höhere Stufe eskalieren?

Wer würde in einem solchen Fall noch den Überblick behalten, einen kühlen Kopf bewahren? Die größte Gefahr, das wissen die Strategen seit Beginn des Nuklearzeitalters, ist, dass man Atomwaffen einsetzt, um der Gefahr eines Präventiv- oder Präemptivschlags zu entgehen. Es könnte sich als sehr schwierig erweisen, einen einmal begonnenen Atomkrieg zu stoppen: denn »rohe Kräfte« würden »sinnlos walten«, Teile des Kommando-, Kontroll-, Kommunikations- und Aufklärungssystems könnten irreparabel beschädigt werden.

Politische und militärische Verantwortliche würden im schon von Clausewitz beschriebenen »Nebel des Krieges« tappen und vielleicht in der allgemeinen Verwirrung und Panik fatale Entscheidungen treffen. Um diese Gefahr etwas zu mindern wurde auf amerikanischer Seite das Konzept der »Zweitschlagskapazität« entwickelt, also der Fähigkeit, nach einem stärkstmöglichen Erstschlag des Feindes dem Angreifer unannehmbaren, verheerenden Schaden zuzufügen.

Schon die Dynamik eines konventionellen Krieges ist schwer zu beherrschen; bei einem nuklearen Krieg scheint dies aussichtslos. In einem totalen Atomkrieg, einem »all-out nuclear war«, würde jedenfalls ganz Europa ausradiert werden, während möglicherweise Teile Russlands und der USA zumindest vorläufig überleben könnten. Im übrigen würde sich wahrscheinlich nach einem solchen atomaren Armageddon der von Carl Sagan und anderen Wissenschaftlern schon vor vier Jahrzehnten beschriebene »nukleare Winter« über die Welt senken und möglicherweise den Planeten Erde unbewohnbar machen.

Doktrinelle Asymmetrien

Es besteht eine Asymmetrie des strategischen Denkens in Bezug auf die Funktion von Nuklearwaffen zwischen Russland bzw. der Sowjetunion und den USA: die russischen Strategen haben nie an die in ihren Augen allzu abstrakten Konzepte ihrer amerikanischen Kollegen geglaubt, wie vor allem die »Assured Destruction«, die »Gesicherte Zerstörung«, für die Donald Brennan vom Hudson Institute das polemische Akronym »MAD« prägte – »Mutual Assured Destruction«, was »Gegenseitige Gesicherte Zerstörung«, aber eben auch »wahnsinnig« bedeutet.

Die russischen Militärplaner vertrauten den Erfahrungen aus dem Großen Vaterländischen Krieg, setzten auf die »Korrelation der Kräfte«; sie sahen im Gegensatz zu den westlichen Strategen keine eindeutige Zäsur zwischen konventionellem bzw. klassischem und nuklearem Krieg. In der Fähigkeit, einen Krieg, und sei es einen nuklearen, zu führen und zu gewinnen, sahen sie die beste Form der Abschreckung, während die Strategiedenker der USA in beiderseitiger totaler Verwundbarkeit die beste Garantie für das Verhindern eines Atomkriegs sahen – zumindest bis zu den Reaganschen Träumen einer allumfassenden strategischen Raketenabwehr.

Übrigens rückten die USA in den sechziger Jahren im Anschluss an die »Kuba-Krise« von ihrer »Alles oder Nichts-Doktrin« ab, gaben die »Massive Retaliation«, also die »Massive Vergeltung« zugunsten der »Flexible Response« oder »Abgestuften Reaktion« auf, was sich dann auch 1967 in der offiziellen NATO-Planung niederschlug. Ihre Experten zerbrachen sich fortan die Köpfe über die Möglichkeit, einen »begrenzten Nuklearkrieg« zu führen und zu beenden.

Die Franzosen wiederum konstruierten zur Zeit von de Gaulle eine Abschreckungsdoktrin, die mehr ihren politischen Wünschen als dem Wesen des nuklearen Phänomens entsprach. Ihre Fachleute weigerten sich durchweg beharrlich, das nukleare Phänomen bis ans Ende, nämlich über das Versagen der Abschreckung hinaus durchzudenken. Sie meinten, wie etwa der Vater der »Force de Dissuasion«, auch »Force de Frappe« genannt, Pierre Marie Gallois, dass die Drohung, dem Feind »einen Arm abzureißen«, genügen würde, um ihn von einem Angriff abzuhalten.

Eigentlich hatte die französische Nukleardoktrin einen selbstmörderischen Charakter und war somit nicht wirklich glaubwürdig. Die relativ bescheidene französische Atomstreitmacht mag zum nationalen Prestige beigetragen haben und sogar den Anspruch auf einen permanenten Sitz im Sicherheitsrat der UNO untermauert haben, doch rein strategisch betrachtet war sie eigentlich eher unbedeutsam und setzte sogar das Land dem Risiko einer ultimativen Katastrophe, nämlich eines nuklearen Erstschlags und damit der totalen Vernichtung aus.

Das »Undenkbare denken«

Man weiß nicht was der Einsatz von Nuklearwaffen gleich welchen Kalibers bewirken würde. Der Abwurf von relativ kleinen Atombomben von ungefähr zwölf Kilotonnen Sprengkraft über Hiroshima und Nagasaki erfolgte einseitig, sozusagen ungestört, ohne die Gefahr einer Vergeltung oder eines nuklearen Flächenbrands, da die USA ja damals über ein atomares Monopol verfügten.

Das Nukleare hat seine eigene Logik, seine eigenen Gesetzmäßigkeiten, die schwer verständlich sein mögen für das gewöhnliche Verständnis. Es geht darum, das »Undenkbare zu denken« und zu planen, um zu verhindern, dass es dazu kommt.

Es hat allerdings in den vergangenen Jahrzehnten eine Art Verlotterung des Denkens über nuklearstrategische Fragen gegeben. Es ist erschreckend festzustellen, wie unbesonnen, wie leichtsinnig in diesen Tagen nicht nur »Laien« mit Fragen umgehen, die die Existenz Europas tangieren. Man scheint auch fast acht Jahrzehnte nach Hiroshima nicht begriffen zu haben, dass das Nukleare eine totale Revolution der militärischen und damit der politischen Angelegenheiten bewirkt hat.

Zu einem Nuklearkrieg kann es, rein theoretisch betrachtet, kommen, weil eine Seite bewusst die Schwelle vom konventionellen zum nuklearen Krieg überschreitet. Aber dies kann auch geschehen, obwohl keine der beiden Seiten eine solche Eskalation wirklich will – durch eine Art Eigendynamik des Kriegs, durch einen Fehlalarm, durch ein Versagen der Kontrollmechanismen. »Accidental nuclear war« nennen dies die Experten. Es besteht nach wie vor die Gefahr, dass die Angst vor einem Enthauptungsschlag, einem Erstschlag und dem Verlust der Zweitschlagsfähigkeit einen Krieg in kürzester Zeit ins Extreme steigern würde.

Am gefährlichsten wäre ein Akteur, der sich gänzlich in die Enge getrieben fühlte, der keinen andern Ausweg mehr sähe als den Einsatz dieser Waffen »of last resort«, der letzten Zuflucht also, um einer Niederlage zu entgehen, oder auch ein Akteur, der angeschlagen wäre und glauben würde, nichts mehr zu verlieren zu haben.

 

1) Der Autor hat in den siebziger und achtziger Jahren im Bereich der nuklearstrategischen Fragen geforscht, etwa 1976 und 1977 als NATO Research Fellow u.a. an der Harvard-Universität, 1986 und 1987 als Gastprofessor am von Carl Friedrich von Weizsäcker geleiteten Max-Planck-Institut in Starnberg.

2) »The delicate balance of terror« – Studie des US-amerikanischen Nuklearstrategen Albert Wohlstetter von 1958.