Ausland15. November 2024

Deutschland im Vormerz

In der regierungslosen Zeit wird der Sozialabbau hinter belanglosem Streit versteckt

von Vincent Cziesla

Fast über Nacht ereilte Ruth Brand ein Schicksal, das nur wenigen Spitzenbeamten zuteilwird. Die deutsche Bundeswahlleiterin war zu zweifelhafter Berühmtheit gelangt, nachdem sie vor einer zu frühen Neuwahl gewarnt hatte. In einem Schreiben an den Bundeskanzler hatte Brand darauf hingewiesen, daß die Gemeinden mit der Durchführung einer schnellen Bundestagswahl überfordert seien und es bei verkürzten Fristen zu einer »vermehrten Nichtzulassung von Wahlvorschlägen« kommen könnte. Zudem seien »nichtetablierte Parteien« und die Lokalbehörden unter erheblichem Druck, um die Sammlung und Beglaubigung von Unterstützungsunterschriften durchzuführen.

Übertriebene Sympathie für die Bundeswahlleiterin ist unangebracht. Auch dem Vorwurf, daß ihre Behörde politisch agiert, dürften linke Kräfte mit Blick auf den noch nicht so lange zurückliegenden Versuch des kalten Parteiverbots gegen die Kommunistische Partei etwas abgewinnen. Doch was CDU und einige bürgerliche Medien in den vergangenen Tagen rund um das Warnschreiben veranstalteten, gleicht einem absurden Theaterstück. In der Diskussion spielte die Überforderung der kaputtgesparten Gemeinden keine Rolle, auch nicht die geringeren Antrittschancen der kleinen Parteien. Stattdessen entzündete sich die Aufregung an einem Nebensatz, in dem Brand die Sorge geäußert hatte, daß die Beschaffung des Papiers für die Stimmzettel zum Problem werden könnte.

Einen vorläufigen Höhepunkt fand der Streit zwischen Konservativen und Sozialdemokraten am Dienstag mit einer Einigung auf einen Wahltermin am 23. Februar. In den kommenden Wochen werden sich die deutschen Parteien andere abseitige Streitpunkte suchen müssen, um den Wahlkampf voranzutreiben. Denn in der politischen Linie reichen die Unterschiede nicht aus. Neben Personaldebatten, Verfahrensfragen und der langsam zu Tode gerittenen Schuldenbremsendiskussion bietet sich allenfalls die Migrationspolitik an, die schon bei vergangenen Wahlen als Wettrennen der Hardliner inszeniert wurde.

Die Grünen gehen mit Robert Habeck als Kanzlerkandidat ins Rennen und setzen damit noch intensiver auf ihre kriegsbegeisterte »Realo«-Anhängerschaft. Daran ließ auch die grüne Nochaußenministerin Annalena Baerbock keinen Zweifel, als sie beim Wirtschaftsgipfel der »Süddeutschen Zeitung« davon sprach, »daß das Zweiprozentziel der NATO in unserer heutigen Lage nicht mehr ausreichen wird«. Habeck fordert ein weiteres »Sondervermögen« für die Bundeswehr noch vor der Wahl. Bei erwarteten Zuwächsen für AfD und BSW müßte die Finanzierung des Krieges sonst künftig »quasi indirekt mit Putin verhandelt werden«, so Habeck.

Die CDU setzt auf Friedrich Merz und den offensiven Kampf gegen Sozialleistungen. Er sei zwar dafür, den »Sozialstaat im Kern zu erhalten«, gab Merz bekannt. Aber das Bürgergeld will er abschaffen und durch eine »neue Grundsicherung« ersetzen. Wer »zumutbare« Arbeit nicht annehme, soll dann nicht mehr als bedürftig gelten. Wie die FDP steht die CDU dafür, die Kosten für Krieg und Krise direkt auf die Bevölkerung abzuwälzen, ohne einen Umweg über neue Staatsverschuldung zu nehmen.

Dazu paßt, daß die Konservativen mit dem Gedanken spielen, das relativ günstige »Deutschlandticket« für den öffentlichen Transport auslaufen zu lassen. Der bayrische CSU-Ministerpräsident Markus Söder spielte seinen Kollegen im Bundestag den Ball zu und erklärte am Dienstag: »Es muß der Bund bezahlen. Und wenn der Bund es nicht bezahlt, dann muß es fallen.« Der Bund, also der Zentralstaat, zahlt aber nur dann, wenn der Bundestag das beschließt. Dafür bräuchte es voraussichtlich die Zustimmung der CDU. Deren Fraktionsgeschäftsführer Thorsten Frei hatte schon am Tag zuvor verlauten lassen, daß seine Fraktion wahrscheinlich nicht für die Fortsetzung des Tickets stimmen werde.

Es darf erwartet werden, daß das Deutschlandticket nicht das einzige Opfer der Zeit zwischen dem Abdanken der Ampel und dem Antritt einer neuen Regierung sein wird. Kanzler Scholz weiß, daß er mit dem fragwürdigen Amtsbonus eines verhinderten Entscheiders in die Wahl gehen wird. Er weiß aber auch, daß der Sozialkahlschlag weitergehen muß, wenn Krieg und Wirtschaftskrieg finanziert werden sollen. Praktisch, daß er nun den machtlosen »Friedenskanzler« geben und sich folgenlos für »sozialen Ausgleich« einsetzen kann. Auch praktisch: Die Konservativen können bei jedem einzelnen ausbleibenden Beschluß und den daraus folgenden Kürzungen darauf verweisen, nichts mit der Regierung zu tun zu haben. So wird die Verantwortungslosigkeit organisiert und hinter dem oberflächlichen Streit im Wahlkampf beiläufig die gemeinsame Agenda des Sozialabbaus umgesetzt.

In ihrer unvergleichlichen Art erläuterte Baerbock jüngst: »Jetzt ist der Moment der Zwischenphase, auf den Putin immer gewartet hat.« Wahrscheinlicher ist, daß es ihre Auftraggeber in den Konzernzentralen und Rüstungsfabriken sind, die in die bewußt geschaffene politische Lücke stoßen werden.