Politisches Spektakel in Den Haag
87 von 193 Staaten entziehen dem OPCW-Mitglied Syrien seine Rechte und Pflichten
In Den Haag ging am Donnerstag die 25. Staatenkonferenz der Organisation für das Verbot von chemischen Waffen (OPCW) zu Ende. Es war der zweite Teil des Treffens, der erste Teil hatte bereits Ende November stattgefunden. Journalisten waren nicht zugelassen, Agenturen wie dpa, AFP und EPA-EFE berichten kaum und bieten keine Bilder an. Neben Formalitäten wie der Verabschiedung des Haushalts und dem Bericht des Generaldirektors wurde wie jedes Jahr an die Opfer von Chemiewaffenangriffen gedacht.
Rückblick des Grauens
Chemische Waffen wurden während des 1. Weltkrieges (1914-1918) vor allem von Deutschland, Frankreich und Britannien eingesetzt. Britannien bekämpfte mit Chemiewaffen in den 1920er Jahren Aufstände der nordirakischen Kurden. Verschiedene Sorten von chemischen Kampfstoffen wurden von den deutschen Faschisten in Konzentrationslagern zur Ermordung von Gefangenen eingesetzt. Die US Air Force benutzte Agent Orange und Napalm in ihren Kriegen in Vietnam und Laos (1964-1975). Im verlustreichen Krieg zwischen Irak und Iran (1980-1988) griff der Irak zu chemischen Kampfstoffen. Obwohl der Irak unter der Ägide von UNO-Sanktionen und Waffenkontrollen zwischen 1990 und 2003 nahezu vollständig entwaffnet worden und sämtliche Programme von chemischen oder biologischen Waffen beendet waren, benutzten die USA und Britannien angebliche Massenvernichtungswaffen im Irak als Vorwand, um 2003 in das Land einzumarschieren. Der Vortrag des damaligen Außenminister Colin Powell, mit dem er im UNO-Sicherheitsrat um Zustimmung für den Angriff auf Irak war, stellte sich als Lüge heraus.
Die israelische Armee setzte im Krieg gegen die Palästinenser im belagerten Gazastreifen ebenso Phosphor ein wie im Krieg gegen den Libanon 2016. Im Gebrauch der USA-Truppen war und ist weißer Phosphor, eine Brandbombe: Falluja/Irak (2004), Mossul/Irak und Rakka/Syrien (2017). Die Türkei setzte ebenfalls weißen Phosphor im Norden Syriens ein (2019). Weißer Phosphor steht nicht auf der Verbotsliste der Chemiewaffenkonvention, ist aber nach der Genfer Konvention verboten für den Einsatz gegen die Bevölkerung.
Syrien am Pranger
Seit 2013 fanden zahlreiche Angriffe mit chemischen Substanzen im Krieg in Syrien statt. Die syrische Regierung weist immer wieder Vorwürfe zurück, chemische Waffen gegen Aufständische eingesetzt zu haben. Im September 2013 unterzeichnete Syrien die Chemiewaffenkonvention und übergab sein gesamtes Chemiewaffenarsenal der OPCW zur Vernichtung.
Dennoch wurden weiterhin Angriffe mit chemischen Substanzen aus Syrien berichtet. Westliche Geheimdienstquellen gaben an, Syrien verfüge über weitere nicht erklärte Chemiewaffen und arbeite an einem neuen Chemiewaffenprogramm. Regelmäßig wurde das Thema von den USA, Britannien und Frankreich im UNO-Sicherheitsrat vorgebracht und Syrien wurde aufgefordert. Syrien mag es heute ebenso gehen, wie 2002 dem Irak. Ein irakischer Wissenschaftler, der damals mit seinem Team gegenüber UNO- und OPCW-Waffeninspektoren den Nachweis erbringen sollte, daß der Irak keine Chemie- oder andere Massenvernichtungswaffen mehr hatte, sagte vor Journalisten in Bagdad: »Wie sollen wir beweisen, daß wir etwas nicht haben, was wir nicht haben?!«
Seit Jahren sorgen nun Vorwürfe über angebliche Chemiewaffenangriffe durch die Syrien innerhalb der OPCW für Konflikte. Bei der aktuellen Staatenkonferenz lag ein von westlichen Staaten eingebrachter Antrag über »Besitz und Einsatz chemischer Waffen durch die Syrische Arabische Republik« vor. Ziel: Syrien als OPCW-Mitgliedstaat seine Rechte und Privilegien abzuerkennen.
Hintergrund der anhaltenden Konflikte ist die Frage, welche Entscheidungsbefugnisse beim UNO-Sicherheitsrat und welche bei der OPCW oder genauer gesagt, beim Technischen Sekretariat der OVCW und dem Generaldirektor liegen. Seit 2014 gibt es die »Fact-Finding-Missions« (FFM), die von 2015 bis 2017 mit der UNO in einer gemeinsamen Mission (JIM) die Täter hinter chemischen Waffenangriffen in Syrien identifizieren sollte. Konflikte über die Herangehensweise der FFM führten dazu, daß Rußland im UNO-Sicherheitsrat die Arbeit von JIM auf eine neue Grundlage stellen wollte. Der entsprechende Resolutionsentwurf wurde von den USA und ihren Partnern abgelehnt. JIM stellte die Arbeit ein.
2018 wurde – auf Initiative der USA und Britanniens – auf einer OPCW-Sondersitzung das »Investigations- und Identifizierungsteam« (IIT) gegründet, auch Attributionsteam genannt, das nun die Täter hinter angeblichen Angriffen mit chemischen Waffen in Syrien benennen sollte. Sowohl FFM als auch IIT arbeiten jenseits der ursprünglich klaren und transparenten OPCW-Struktur und sind dem Technischen Sekretariat der OPCW eingegliedert. Das wiederum kooperiert in Sachen »Syrien« lediglich mit dem Generaldirektor. Rußland und andere Staaten lehnten die IIT-Gründung ab, weil die Bildung eines solchen Gremiums nicht in der Chemiewaffenkonvention vorgesehen ist.
Mittlerweile hat IIT zwei Berichte über angebliche Angriffe mit chemischen Waffen in Syrien – drei Angriffe in Ltamneh im März 2017 und ein nächtlicher Angriff in Sarakeb im Februar 2018 – »mit hoher Wahrscheinlichkeit« der syrischen Armee zugeordnet. Damit wird Syrien ein wiederholter Verstoß gegen die Chemiewaffenkonvention vorgeworfen.
Nach dem Willen westlicher Staaten, auch Deutschlands, sollte Syrien nun auf der 25. Staatenkonferenz bestraft werden.
Schein und Realität
Syrien allerdings erkennt die IIT-Berichte nicht an, weil sie nicht nach dem von der OPCW vorgegebenem Procedere zustande kamen. Obwohl sie eingeladen worden waren, waren weder in Ltamneh noch in Sarakeb Inspektoren der OPCW vor Ort, um Proben zu behmen, mit Augenzeugen zu sprechen, die Gegebenheiten zu begutachten und von allen Seiten Informationen über das Geschehen einzuholen. Das Material, das seitens der FFM und schließlich auch von IIT ausgewertet wurde, stammte von oppositionellen Kräften und wurde den OPCW-Inspektoren in einem Nachbarland Syriens übergeben, vermutlich in der Türkei. Das syrische Außenministerium sagte nach dem Ltamneh-Bericht, die Schlußfolgerungen seien »fabriziert worden mit dem Ziel der syrischen Regierung falsche Vorwürfe zu machen«. Die »Zeugen« seien Angehörige der Nusra-Front und der »Weißhelme« gewesen.
Nach dem angeblichen Angriff in Sarakeb/Idlib, hatten Nachrichtenagenturen wie Reuters und AP berichtet, die Angaben über einen Hubschrauberangriff der syrischen Armee seien von den »Weißhelmen« verbreitet worden. Danach hätten »drei ihrer Rettungskräfte und sechs andere Personen über Atembeschwerden« geklagt. Die ebenfalls der bewaffneten Opposition nahestehende »Syrisch-Amerikanische Medizinische Gesellschaft« (SAMS) habe berichtet, »in ihren Krankenhäusern in Idlib« 11 Patienten mit »Verdacht auf Chlorgasvergiftung« behandelt zu haben.
Trotz vieler Zweifel und Unregelmäßigkeiten über die Angaben und folgende Untersuchungen sind westliche Staaten sich einig, daß Syrien für die Angriffe verantwortlich sein soll. 18 EU-Staaten erklärten am 31. März 2021, eine »Internationale Partnerschaft gegen Straffreiheit für den Einsatz von chemischen Waffen« in Syrien gegründet zu haben.
Ein Vorschlag wird abgelehnt
Die Vorwürfe gegen Syrien, chemische Waffen während des Krieges eingesetzt zu haben, werden spätestens seit dem angeblichen Angriff mit chemischen Waffen in Douma am 7. April 2018 auch international erheblich angezweifelt. An der Untersuchung in Douma beteiligte OPCW-Inspektoren hatten aufgrund ihrer Untersuchungen einen Chemiewaffenangriff für unwahrscheinlich gehalten. Erstens war keine entsprechende chemische Substanz gefunden worden, die einer Waffe hätte zugerechnet werden können. Zweitens schienen die Behälter, die angeblich das Gas transportiert haben und von der syrischen Luftwaffe abgeworfen worden sein sollten, »manuell« an ihren Fundort verbracht worden zu sein. Diese Angaben fanden sich weder im Zwischen- noch im Abschlußbericht wieder, das gesamte ursprüngliche Douma-Team war nach der Vorlage des ersten Zwischenberichts abgezogen worden.
Ehemalige hochrangige UNO-Diplomaten wie der erste Generaldirektor der OVCW José Bustani, Hans von Sponeck und Richard Falk haben sich in der »Berlin Gruppe 21« vernetzt und veröffentlichten kürzlich eine »Erklärung der Besorgnis«, die von 28 international bekannten Persönlichkeiten, darunter auch ehemalige OPCW- und UNO-Waffeninspektoren, unterzeichnet worden war.
Für die Berlin Gruppe 21 wandten sich Hans von Sponeck und Professor Richard Falk nun direkt an die 193 teilnehmenden Staaten der 25. OPCV-Konferenz und machten einen Vermittlungsvorschlag, um Licht in den Nebel um den »redaktionell bearbeiteten« OPCW-Abschlußbericht zu Douma zu bringen und die Lage innerhalb der OPCW zu entspannen.
Der Wissenschaftliche Beirat der OPCW (SAB) solle »ein geeignetes Gremium bereitstellen«, in dem die Angaben der Inspektoren, die in Douma vor Ort ermittelt hatten und zu einem anderen Ergebnis gekommen waren als der offizielle Abschlußbericht, überprüft werden sollten. »Objektive und informierte Kommentare, Empfehlungen und Beurteilungen« sollten ausgetauscht werden. Schließlich könnten die Ergebnisse dieses Prozesses veröffentlicht werden, um »vollständige Transparenz und Rechenschaftspflicht« zu ermöglichen.
Erfüllungsgehilfe einiger Staaten
Noch während der Arbeit an diesem Text verbreitete die deutsche Nachrichtenagentur dpa von der OVCW-Staatenkonferenz: »Syrien ist wegen des mehrfachen Einsatzes von Giftgas im Bürgerkrieg von der Chemiewaffenkontrollbehörde OPCW suspendiert worden.« Das Land habe sein Stimmrecht verloren, weil es »mehrfach gegen die Konvention zum Verbot der Chemiewaffen verstoßen« habe.
Eine Gruppe von 46 westlichen Staaten hatte in einem Antrag »Über den Besitz und Einsatz von chemischen Waffen durch die Syrische Arabische Republik« die Bestrafung Syriens gefordert. Der Botschafter Frankreichs, Luis Vassy, brachte laut dpa die Resolution ein, weil man es »dem syrischen Volk schuldig« sei.
Von den 193 Mitgliedstaaten beteiligten sich 136 an der Abstimmung. Davon stimmten 87 für die Resolution und folgten damit dem Antrag von Kanada, USA und Australien.15 Staaten stimmten gegen die Resolution, 34 enthielten sich.
Vor der Abstimmung hatte der russische Vertreter bei der OPCW Alexander Schulgin an die Staatenkonferenz appelliert, die Erklärung abzulehnen. Weil alles, was Rußland vorbringe mittlerweile von bestimmten Ländern sofort als »Desinformationskampagne« abgelehnt werde, mit der »die OPCW in Mißkredit gebracht werden solle«, wolle er es einmal anders beschreiben. Die »Grundlagen der OPCW« würden von einer »Euro-Atlantischen Gemeinschaft« untergraben, um deren geopolitischen Interessen (im Mittleren Osten und gegen Syrien) durchzusetzen. Westliche Staaten hätten in den letzten Jahren einen Mechanismus innerhalb der OPCW etabliert, mit dem unerwünschte Staaten in Verruf gebracht würden.
Das, was im Falle Syriens als »Tatsachen« durch OPCW-Strukturen »legalisiert« werde, basiere auf einem Szenario, an dem westlich gesponserte Nichtregierungs- und pseudo-humanitäre Organisationen »wie die berühmt-berüchtigten Weißhelme« mit Provokationen und gestellten Videos beteiligt gewesen seien. Das so produzierte Geschehen werde dann von westlichen Medien verbreitet, Politiker gäben Erklärungen ab und die OPCW »legalisiert« diese Fälschungen. Nie habe es in der Geschichte der Organisation und der Chemiewaffenkonvention etwas gegeben, wie das Vorgehen gegen Syrien.
Es gehe um die Zukunft der OPCW, so Botschafter Schulgin: »Entweder wird sie weiter eine international glaubwürdige Organisation sein, die sich der Abrüstung und Nichtverbreitung chemischer Waffen verschrieben hat, oder sie wird zu einer Plattform für Manipulationen und Erfüllungsgehilfe für die Ambitionen bestimmter Staaten.«
Die Organisation für das Verbot von Chemiewaffen wurde 1997 gegründet. Die ihr zugrunde liegende Chemiewaffenkonvention wurde bis heute von 193 Staaten unterzeichnet. 98 Prozent der weltweiten Bestände an chemischen Waffen wurden bisher unter Aufsicht der OPCW vernichtet. 2013 wurde die Organisation mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.