Kultur11. Januar 2023

Spielfilm als Nachhilfeunterricht in Kolonialgeschichte

»Tirailleurs«

von Ralf Klingsieck, Paris

Der Film, der vor einigen Tagen in Frankreichs Kinos angelaufen ist, heißt schlicht »Tirailleurs«. Das bezieht sich auf den von Militärhistorikern geprägten Begriff der »Tirailleurs sénégalais«, die aber nicht nur aus dem Senegal stammten, sondern aus den verschiedenen französischen Kolonien in Westafrika, von Algerien über Mali und Tschad bis Kongo-Brazzaville.

Omar Sy, der aus dem Senegal stammende, aber in Frankreich aufgewachsene Hauptdarsteller des Films, ist europaweit Kinobesuchern durch seinen Erfolgsfilm von 2011 »Ziemlich beste Freunde« bekannt. Jetzt spielt er einen Vater, der sich 1914 als Kriegsfreiwilliger meldet, um seinem zwangseingezogenen Sohn nach Europa zu folgen und ihn dort möglichst vor dem Tod zu bewahren. Das sehr bewegend dargestellte Thema war Omar Sy so wichtig, daß er zehn Jahre lang um diesen Film gekämpft und dafür als Koproduzent all seine Ersparnisse investiert hat.

Die erste Einheit der »Tirailleurs sénégalais« wurde 1857 aus afrikanischen Freiwilligen oder von den Behörden freigekauften und ihnen damit verpflichteten Sklaven gebildet, um die französischen Truppen bei der »Aufrechterhaltung der Ordnung« in den Kolonien zu unterstützen. Als im Ersten Weltkrieg die zahlenmäßige Überlegenheit der deutschen Truppen eine Sammlung aller Reserven und damit auch eine Verlegung der in Afrika stationierten Einheiten nötig machte, wurden diese dort durch die stark aufgestockten Verbände aus einheimischen Soldaten abgelöst.

Weil die Zahl der Freiwilligen nicht ausreichte, ging man dazu über, Afrikaner auch gegen ihren Willen einzuziehen. Schon bald wurden erste Einheiten auf den Kriegsschauplatz in Nordostfrankreich geschickt. Dort haben schließlich rund 200.000 Afrikaner gekämpft und dabei verloren 30.000 ihr Leben. Die schwarzen Soldaten bekamen tagtäglich den Rassismus der Franzosen zu spüren, und nicht nur den der Offiziere, sondern auch ihrer weißen »Kameraden«. Um sie zu motivieren, wurde den Afrikanern versprochen, daß sie nach dem siegreich beendeten Krieg französische Staatsbürger würden, doch das erwies sich als Lüge.

Die Kolonien blieben, was sie waren. Im Zweiten Weltkrieg wiederholte sich alles: wieder wurden – notfalls mit Gewalt – Einheiten ausschließlich aus Afrikanern aufgestellt und nach Europa geschickt. Hier stellten sie drei Viertel der letztlich 600.000 Soldaten von General de Gaulles Armee des »Freien Frankreich«, und 55.000 von ihnen sind gefallen. So war das »Freie Frankreich« bei der Landung der Alliierten in der Provence fast ausschließlich durch Afrikaner vertreten. Doch je weiter diese Einheiten nach Norden vordrangen, desto mehr schwarze Soldaten wurden beim Einmarsch in die befreiten Städte Frankreichs gegen weiße – meist aus den Reihen der inneren Résistance – ausgewechselt. Das entsprach eher dem Mythos von der Selbstbefreiung Frankreichs.

Auch die Lüge von der in Aussicht stehenden Staatsbürgerschaft wurde den Afrikanern gegenüber wiederholt – und von diesen geglaubt. Aber es kam noch schlimmer. Als im Dezember 1944 im Militärlager Thiaroye nahe der senegalesischen Hauptstadt Dakar mehrere hundert aus Europa zurückgekehrte Soldaten entpflichtet und nach Hause geschickt wurden, forderten sie ihren noch ausstehenden Sold der vorangegangenen Monate. Die Offiziere werteten das als »bewaffnete Aufruhr« und ließen in die Masse der protestierenden Soldaten schießen. Wie viele Menschen dabei umgebracht wurden, konnte nie geklärt werden. Historiker schätzen, daß es mehr als 70 waren.

Von diesem »Massaker von Thiaroye« wissen die meisten Franzosen heute ebenso wenig wie überhaupt vom Einsatz afrikanischer Soldaten in Frankreichs Kriegen. In den Schulbüchern wird das Thema nur kurz gestreift und da es im Lehrplan als »fakultativ« gilt, lassen es viele Lehrer nur zu oft ganz unter den Tisch fallen, wenn es ihnen an Unterrichtszeit mangelt. Die meisten Franzosen wurden mit dieser düsteren Seite ihrer Geschichte erst jetzt im Zusammenhang mit dem Film konfrontiert.

Omar Sy wurde von zahlreichen Zeitungen oder Fernseh- und Rundfunksendern interviewt und hat diese Gelegenheit ausgiebig genutzt, um über die historischen Hintergründe zu sprechen. Durch Nachforschungen von Journalisten wurde auch bekannt, daß zwar von den afrikanischen Soldaten der beiden Weltkriege heute niemand mehr lebt, wohl aber mehr als 40 Männer, die nach 1945 in Frankreichs Kolonialkriegen in Indochina und Algerien gekämpft haben. Sie sind alle über 90 Jahre alt und verbringen ihren Lebensabend fern von ihren Familien in spartanischen Ausländerheimen der Pariser Region, weil sie ihren Anspruch auf die Mindestrente von monatlich 950 Euro verloren hätten, wenn sie nach Afrika zurückgekehrt wären.

Die Empörung über diese bürokratische Schikane der Behörden war so groß, daß das Staatssekretariat für ehemalige Kriegsteilnehmer ungewöhnlich schnell reagiert und die Vorschriften geändert hat. Die ehemaligen »senegalesischen Schützen« können jetzt in ihre Heimat zurückkehren und ihre Rente wird ihnen dorthin überwiesen.