Kaleidoskop06. Januar 2024

Frankreichs berühmteste Unbekannte gestorben

Foto »Le baiser de l’Hôtel de Ville« machte Robert Doisneau berühmt

von Ralf Klingsieck, Paris

Der Name Françoise Bornet sagt sicher nur wenigen Menschen etwas, doch das Gesicht der 20-Jährigen, die sich im Menschengedränge vor dem Pariser Rathaus mit ihrem Freund küßt, hat in Frankreich und darüber hinaus in ganz Europa wohl jeder schon einmal gesehen.

Die junge Frau von Robert Doisneaus weltbekanntem Foto »Le baiser de l‘Hôtel de Ville« ist in dieser Woche im Alter von 93 Jahren gestorben. Das Foto wurde 1950 aufgenommen, doch wer die Frau darauf war, erfuhr man erst 1993 vor einem Pariser Gericht, wo sie als Zeugin vorgeladen wurde. Mehrere Paare hatten den Fotografen verklagt. Sie behaupteten, die beiden sich Küssenden auf dem Foto zu sein, und forderten einen Anteil an den Lizenzeinnahmen, die Doisneau inzwischen damit erzielt hatte.

Tatsächlich war der »Baiser de l‘Hôtel de Ville« eins der kommerziell erfolgreichsten Motive der Geschichte der Fotografie und prangte auf Hunderttausenden Postkarten, Plakaten und Kalendern, auf T-Shirts und den verschiedensten Gegenständen.

»Doisneau hatte uns beide wohl schon eine Weile beobachtet, bevor er uns ansprach«, erinnerte sich Françoise Bornet. »Er finde uns reizend, sagte er, und wollte wissen, ob wir bereit seien, unseren gerade ausgetauschten Kuß vor seinem Fotoobjektiv noch einmal zu wiederholen.« Sie nannte auch den Namen ihres damaligen Freundes Jacques Carteaud und ergänzte, daß das Fotoshooting, bei dem an verschiedenen markanten Stellen von Paris ein halbes Dutzend verschiedener Motive des sich küssenden Paares aufgenommen wurden, einen halben Tag gedauert hat.

Der Fotograf Robert Doisneau bestätigte das vor Gericht und präzisierte, daß der »Baiser« zu einer Fotoserie gehörte, die das US-amerikanische Magazin »Life« über die Agentur Rapho bei ihm bestellt hatte, um eine Artikelserie zum Thema »Liebe in Paris« zu illustrieren. Dazu schrieb das Magazin »Life« einleitend: »In Paris young lovers kiss wherever they want to and nobody seems to care« (In Paris küssen sich junge Liebespaare, wo immer sie wollen, und niemanden scheint es zu stören).

Vor Gericht mußte Robert Doisneau einräumen, daß er das Paar, bei dem es sich zufällig um Schauspielschüler gehandelt hat, für das »gestellte« Foto »etwas dirigiert« und hinterher für ihre Mitwirkung bezahlt hatte. Dieses Eingeständnis ist ihm sicher nicht leicht gefallen, denn über viele Jahre galt das Bild von dem sich küssenden Paar als Musterbeispiel für einen gelungenen Schnappschuß, und Doisneau hatte sich gehütet, diesen Mythos zu zerstören. Doch jetzt ging es nicht anders, denn nur durch die schlichte Wahrheit der Geschichte des Bildes konnten die Kläger zweifelsfrei abgewiesen werden.

Namentlich bekannt ist ein Ehepaar Lavergne, das wegen »Verletzung ihrer Privatsphäre« von Doisneau und Rapho 500.000 Franc forderte. In einem parallelen Verfahren forderte Françoise Bornet 100.000 Francs und einen Anteil an den Lizenzeinnahmen des Fotos. Auch das wurde durch die Richter zurückgewiesen, die Doisneaus Argument aufgriffen, daß Françoise Bornet seinerzeit bereits bezahlt worden sei. Außerdem könne sie keine Rechte an dem Bild einfordern, weil sie auf dem Foto aufgrund ihrer Position nicht als Person identifizierbar sei.

Françoise Bornet ist Anfang der 1950er Jahre Schauspielerin geworden, ist aber über Nebenrollen nie hinausgekommen. Höhepunkte ihrer bescheidenen Filmkarriere waren kleine Wortwechsel vor der Kamera mit Filmgrößen wie Fernandel oder Jean Gabin. Später wechselte sie den Beruf. Als sie im Alter in ernste finanzielle Schwierigkeiten geriet, entschied sie sich 2005 schweren Herzens, den Originalabzug des »Baiser«, den ihr Robert Doisneau geschenkt hatte, zu verkaufen. Bei einer Versteigerung zahlte ein Sammler dafür 185.000 Euro.

Das Foto »Le baiser de l‘Hôtel de Ville« ist eine Ikone der sogenannten französischen humanistischen Fotografie der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Die bekanntesten und erfolgreichsten Fotografen dieser »Bewegung« waren neben Robert Doisneau auch Willy Ronis und Henri Cartier-Bresson. Sie nahmen fast nur Schwarz-Weiß-Fotos auf und konzentrierten sich inhaltlich auf Genres des täglichen Lebens der »classe populaire«. Dabei nahmen die Fotografen deren Blickwinkel ein und vermittelten Empathie für die abgebildeten Personen.

So sind auch die beiden Liebenden auf dem Foto »Le baiser de l‘Hôtel de Ville« ganz gewöhnliche Menschen. Für die »humanistische Fotografie« ist aber auch charakteristisch, daß hier die Drehung des küssenden Mannes zum Fotografen hin verhindert, daß das Bild voyeuristisch wirkte.

Daß Robert Doisneau sich hin und wieder nicht scheute, der abzubildenden Wirklichkeit etwas nachzuhelfen und Motive zu »stellen«, haben seine Kollegen und Freunde Willy Ronis und Henri Cartier-Bresson kritisiert. Letzterer ging sogar so weit, daß er von einem ins Auge gefaßten Motiv nur ein einziges Foto machte und nie ein zweites Mal auf den Auslöser drückte. Für ihn zählte nur der „eingefangene Augenblick“.

Das künstlerische Erbe von Robert Doisneau, der am 1.April 1994 gestorben ist, wird durch seine Töchter Francine Deroudille et Annette Doisneau bewahrt und gepflegt. Sie ordnen sein Archiv (*), digitalisieren die vielen tausend Negative und haben mit Unterstützung der Stadtverwaltung aus seinem Atelier in der Pariser Arbeitervorstadt Gentilly ein kleines Museum gemacht. Die weiter eingehenden Lizenzgebühren verwenden sie dazu, pro Jahr etwa ein Dutzend Ausstellungen mit seinen Fotos in Rathäusern, Bibliotheken oder Schulen im ganzen Land zu organisieren und mit Stipendien Nachwuchsfotografen zu unterstützen.

*Maison Doisneau
de la photographie
1 Rue de la Division Leclerc 94250 Gentilly – Tel.01.55.01.04.86
Geöffnet Mittwoch – Sonntag 13.30 bis 18.30