Druckwasserreaktor in Flamanville ist am Netz
Bauzeit um zwölf Jahre überzogen und Kosten versechsfacht
Der Druckwasserreaktor von Flamanville ist ans Netz gegangen. Frankreichs modernstes Kernkraftwerk speist im Testbetrieb zunächst den Strom ein, der mit einem Viertel seiner Kapazität produziert wird. Das soll bis zum Sommer nächsten Jahres stufenweise bis zur vollen Leistung gesteigert werden. Mit dieser sollen dann zwei Millionen Franzosen mit Strom versorgt werden. »Fla 3«, wie er offiziell beim Energiekonzern Electricité de France (EDF) heißt, ist der technisch fortschrittlichste Reaktor, er hat aber seit Jahren auch alle Rekorde hinsichtlich Bauzeit und Kosten geschlagen.
Als das Projekt 2006 offiziell vorgestellt wurde, ging man davon aus, daß dieser Druckwasserreaktor 3,3 Milliarden Euro kosten und daß man an ihm 54 Monate lang bauen werde, von Ende 2007 bis Mitte 2012. In Wirklichkeit hat der Bau statt 54 mehr als 200 Monate gedauert und nach Angaben von EDF werden sich die Kosten statt 3,3 auf 13,2 Milliarden Euro summieren, während der staatliche Rechnungshof bei einer kritischen Gegenrechnung sogar auf 19,1 Milliarden Euro kommt.
Die Gewerkschaften bei EDF und auch die technischen Experten beispielsweise bei der Behörde für Reaktorsicherheit sind überzeugt, daß diese Überschreitungen von Anfang an absehbar waren, weil die offiziellen Zahlen völlig irreales Wunschdenken darstellten. Das hätte ein Schulkind nachrechnen können, denn um das Jahr 2000 lag die Bauzeit für einen Kernreaktor weltweit im Schnitt bei 121 Monaten, also weit über den von EDF angegebenen 54 Monaten.
Daß es so weit kam, lag an der innerfranzösischen Konkurrenz zwischen dem öffentlich-rechtlichen Energiekonzern EDF, dessen Ingenieurbereich Kernreaktoren entwirft und baut, und dem staatseigenen Unternehmen Areva, das vor allem weltweit Uran beschaffen soll, das aber ebenfalls Kernreaktoren entwirft und baut. Da Areva vergebens auf die Genehmigung für den Bau eines Druckreaktors in Frankreich wartete, wandte man sich an Interessenten im Ausland. So wurde, zeitlich parallel zum EDF-Reaktor in Flamanville, auch einer von Areva in Finnland gebaut. Dort hatte das französische Unternehmen bei der Ausschreibung – im Verein mit Siemens – die ebenfalls angetretene Konkurrenz aus dem benachbarten Rußland geschlagen, nicht zuletzt mit der Zusage, daß der Reaktor nur drei Milliarden Euro kosten solle und schlüsselfertig in 48 Monaten gebaut würde.
Das war völlig unrealistisch, aber diese Zahlen standen nun auch bei EDF ständig vor Augen und haben alle Hochrechnungen verfälscht. Dabei hatte der Konzern gehofft, daß Flamanville ein Pilotprojekt werden und als Schaufenster für künftige Aufträge im Ausland dienen könnte. In Wirklichkeit mußten sowohl EDF in Flamanville als auch Areva in Finnland ihre Zahlen ständig korrigieren. So wurde die Bauzeit an beiden Standorten letztlich um zwölf Jahre überzogen. In derselben Zeit hat China, von dem man sowohl bei EDF als auch bei Areva als Wunschmarkt geträumt hatte, aus eigener Kraft mehrere Druckwasserreaktoren entwickelt, in Serie gebaut und in Betrieb genommen.
Emmanuel Macron hatte im Präsidentschaftswahlkampf 2022 angekündigt, daß er einen neuen Aufschwung für die Kernkraft in Frankreich einleiten wolle. Im Mittelpunkt steht dabei der Bau von sechs Druckwasserreaktoren bis 2035, die etwas kleiner als der von Flamanville sein sollen, aber billiger und zeitsparender in Serie gebaut werden. Gleichzeitig soll der Bau von weiteren acht Druckwasserreaktoren vorbereitet werden, die zwischen 2035 und 2050 entstehen. Das wird aber nicht mit der reihenweisen Demontage der vorhandenen alten Kernkraftwerke einhergehen.
Macron stellt im Gegenteil das Programm infrage, demzufolge nach dem Abschalten der zwei Reaktoren im elsässischen Fessenheim bis 2035 zwölf weitere vom Netz genommen und demontiert werden. »Ich will, daß künftig kein einziger Kernreaktor stillgelegt wird, der noch Strom produzieren könnte«, erklärte Macron.
Gleichzeitig sollen massiv Off-Shore-Windenergieparks gebaut und die Fläche der Sonnenenergiekollektoren verzehnfacht werden, so daß Frankreich 2050 über einen Energiemix von 50 Prozent Kernenergie und 50 Prozent erneuerbare Energien verfügen wird.
Doch die Zahlen, die im Zusammenhang mit diesem ehrgeizigen Programm vorgelegt wurden, »dürften genauso fern der Realitäten liegen wie die seinerzeit für Flamanville angekündigten«, meint Yves Marignac, der Ingenieur, Forscher und Sprecher der Umweltorganisation Négawatt ist.