Korruption beim Stahlkonzern
Tata Steel IJmuiden in den Niederlanden zahlt zuviel für Dienste von Schwesterunternehmen – auf Kosten der Belegschaft
Das niederländische Stahlwerk Tata Steel IJmuiden hat in den vergangenen fünf Jahren eine halbe Milliarde Euro zuviel an eine andere Tochter des indischen Tata-Konzerns überwiesen. Das berichtete das »Noordhollands Dagblad« unter Berufung auf sechs Whistleblower, die in dem Betrieb arbeiten. Gleichzeitig muß die Belegschaft in diesem Jahr auf die übliche Gewinnbeteiligung verzichten.
Die Vorgeschichte: 2015 hatte die Direktion in IJmuiden den Betriebsrat darüber informiert, daß die hauseigene Abteilung für Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) aufgelöst werde und andere Informatikfirmen deren Aufgaben übernehmen sollten. Eine von ihnen ist Tata Consultancy Services (TCS), ebenfalls eine Tochter des weltumspannenden Tata-Imperiums aus dem indischen Mumbai.
Die Whistleblower arbeiteten nach Angaben des »Noordhollands Dagblad« bis 2015 in der IKT-Abteilung in IJmuiden. Nach deren Auflösung wurden sie wie alle 280 Informatiker auf andere Bereiche des Stahlwerks verteilt. Die Auslagerung brachte jedoch keine Kostenersparnis, falls das überhaupt jemals das Ziel war – die Kosten seien sogar erheblich gestiegen und die Qualität gesunken, so die Informanten. Alles deutet darauf hin, daß der Mutterkonzern auf diese Weise Einnahmen des Werks in IJmuiden abgezogen hat.
Die Informatiker, die TCS aus Indien geschickt habe, sollen laut den Whistleblowern schlechtes Englisch sprechen und über weniger Kenntnisse verfügen als die früheren Mitarbeiter der Abteilung. Mehrmals habe die Produktion in IJmuiden wegen Computerproblemen gestoppt werden müssen, erst die heimischen Fachleute hätten das Werk wieder in Gang bringen können. Trotzdem seien die Rechnungen aus Indien sehr hoch gewesen.
Eine Untersuchung des in der Informatikbranche renommierten Beraterbüros Gartner aus den USA bestätigte Ende 2018 im Prinzip die Einschätzung der Whistleblower. Demnach überweist Tata Steel IJmuiden jährlich 210 Millionen Euro an Tata Consultancy Services. Nach Ansicht von Gartner waren das für die erbrachten Leistungen rund 100 Millionen Euro zuviel. Das Ergebnis der Revision habe im Betriebsrat zu einem Tumult geführt, berichten die Whistleblower.
Tata Steel widerspricht den Angaben von Gartner energisch. Es fließe zwar viel Geld nach Mumbai, aber dem stünden auch große Investitionen gegenüber. Der Mutterkonzern habe Tata Steel IJmuiden auch keineswegs zu dem Geschäft gezwungen, sondern TCS biete einen guten Service. Deshalb sei der Vertrag mit TCS im Juli um fünf Jahre verlängert worden.
Die Gewerkschaft FNV Metaal zeigte sich hingegen »bestürzt« über die hohen Kosten und fordert eine erneute tiefgehende Untersuchung. »Sie verweist auf einen Brief des ehemaligen Direktors Henrar an den Betriebsrat, in dem steht, daß zehn Jahre lang nicht in den IKT-Bereich investiert worden ist«, berichtete am Montag die Nachrichtenseite für niederländische Betriebsräte »Ornet«. Theo Henrar hatte sich im Frühjahr mit der Chefetage von Tata Steel Europe überworfen, weil er sich anläßlich eines geplantes Stellenabbaus angeblich mehr für das Werk in IJmuiden eingesetzt hatte als für den internationalen Tata-Steel-Konzern. In der Folge mußte er zurücktreten. Durch einen Streik in IJmuiden konnte ein Abkommen zwischen der Gewerkschaft FNV Metaal und Tata Steel erkämpft werden.
FNV Metaal fordert jetzt von der Direktion in IJmuiden eine erneute Untersuchung der enormen IKT-Kosten für den »dramatisch schlechten Service«, berichtete das »Haarlems Dagblad«. Immerhin muß die Belegschaft für das Jahr 2019 auf seine übliche Gewinnbeteiligung verzichten, während die Direktion einer Tochter des Mutterbetriebs anscheinend das Geld in den Rachen schmeißt. Laut der niederländischen Nachrichtenagentur ANP hat Tata Steel IJmuiden das Geschäftsjahr mit einem Verlust von 114,6 Millionen Euro abgeschlossen. In den letzten Jahren lag die Gewinnausschüttung für die Belegschaft im Schnitt bei sieben Prozent des Lohns, in guten Zeiten sogar bei 20 Prozent.
Gerrit Hoekman
»Angst vor der Zukunft« – Arbeiter von Tata Steel am 17. Juni 2020 im Streik für die Erhaltung ihrer Arbeitsplätze (Foto: EPA-EFE/KOEN)