Ausland03. September 2019

Neue Hoffnung

Zehn Jahre nach Massaker von Kundus: Opfer warten immer noch auf Entschädigung durch die Bundesrepublik

Zehn Jahre nach der Tat keimt Hoffnung auf. Am Mittwoch vergangener Woche, kurz vor dem Jahrestag des Massakers von Kundus, gab der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strasbourg bekannt, seine Große Kammer habe Abdul Hanans Klage gegen die Bundesrepublik angenommen. Hanan hatte bei dem Massaker in der Nacht vom 3. zum 4. September 2009, für das der damalige Oberst der deutschen Bundeswehr Georg Klein militärisch Verantwortung trug, zwei Söhne im Alter von acht und zwölf Jahren verloren. Insgesamt waren Dutzende, vermutlich gar über hundert Zivilisten zu Tode gekommen. Hanan fordert Gerechtigkeit – und obwohl seine Klage wie die anderer Opferangehöriger von deutschen Gerichten letztinstanzlich abgewiesen wurde, hat er nicht aufgegeben: Er ist einen Schritt weiter gegangen und hat sich an den EGMR gewandt. Dessen Große Kammer wird sich nun damit befassen.

Begonnen hatten die Ereignisse, die letztlich in das Massaker mündeten, am Nachmittag des 3. September 2009 gegen 15.30 Uhr afghanischer Ortszeit, also gegen 13 Uhr in Deutschland. Taliban-Kämpfer hatten bei der Ortschaft Aliabad wenige Kilometer südlich des Feldlagers der deutschen Bundeswehr in Kundus zwei Tanklaster in ihre Gewalt gebracht. Die militärische Gesamtlage war stark angespannt. Auch die Bundeswehr war in erbitterte Gefechte verwickelt, und die Befürchtung machte unter deutschen Militärs die Runde, die Taliban könnten die frisch erbeuteten Tanker als rollende Bomben nutzen, um das deutsche Feldlager anzugreifen. Abends wurde USA-Luftunterstützung angefordert, zunächst zur Aufklärung. Es zeigte sich, daß die zwei Tanker auf einer Sandbank in einem Fluß festsaßen, den sie offenbar hatten überqueren wollen. Zahlreiche Menschen – vorwiegend Zivilisten aus den umliegenden Dörfern – waren gekommen, zapften den begehrten Treibstoff ab, suchten damit zugleich die feststeckenden Tanker wieder flottzumachen.

Angriff ohne Vorwarnung

Der zuständige Kommandeur, Oberst Klein, befahl, die Fahrzeuge per Luftangriff zu vernichten. Um 1.49 Uhr Ortszeit am 4. September – 23.19 Uhr in Deutschland – warfen zwei F-15-Jets der United States Air Force die tödlichen Bomben ab. Dabei kamen bis zu 142 Menschen ums Leben, die überwiegende Mehrheit Zivilisten.
Das Massaker hat damals international für Entsetzen gesorgt. Militärisch wäre es, wie nicht anders zu erwarten, leicht zu vermeiden gewesen. Nicht nur, daß man mit der Bombardierung hätte abwarten können, bis die Tanklaster wieder flott gewesen wären und sich von den Zivilisten entfernt hätten. Protokolle des Funkverkehrs zwischen den deutschen Stellen in Kundus und den US-amerikanischen F-15-Besatzungen zeigten, daß letztere wiederholt – angeblich fünf Mal – darauf drangen, in einem ersten Schritt die Zivilisten mit Tiefflügen von den Tankern zu verjagen und dann erst Bomben zu werfen, um die Zahl der absehbaren Opfer zu minimieren. Der unter Kleins Kommando zuständige deutsche Fliegerleitoffizier lehnte dies ab und verlangte – mit der Behauptung, die anwesenden Menschen seien ausnahmslos Kämpfer der Taliban –, die Fahrzeuge ohne Vorwarnung zu zerstören.

Das geschah dann, und zahlreiche Zivilisten starben. Die beteiligten USA-Militärs wurden dafür umgehend strafversetzt. Versuche von Stanley McChrystal, Kommandeur der International Security Assistance Force (ISAF), auch gegen die beteiligten deutschen Soldaten vorzugehen, wurden von der deutschen Bundesregierung konsequent verhindert. Oberst Klein fiel die Karriereleiter sogar hinauf, wurde nach einer Reihe von Zwischenstufen zum Abteilungsleiter im Amt für Personalmanagement der Bundeswehr ernannt und zum Brigadegeneral befördert. Heute amtiert er als Abteilungsleiter Ausbildung Streitkräfte im Kommando Streitkräftebasis in Bonn.

Außenminister Frankreichs und Luxemburgs mußten kuschen

Auch auf politischer Ebene ging Berlin mit aller Macht gegen Kritik vor. Schon am Tag nach dem Bombardement stellte Frankreichs Außenminister Bernard Kouchner klar, seiner Auffassung nach habe es sich bei dem Angriff um einen »großen Fehler« gehandelt, während sein luxemburgischer Amtskollege Jean Asselborn entsetzt konstatierte, es sei nur »schwer zu verstehen und zu akzeptieren, warum so schnell Bomben geworfen wurden«. Der mörderische Angriff hätte »nicht stattfinden dürfen«: »Es muß doch auch in der NATO Regeln geben.«

Umgehend wurde Luxemburgs Botschafterin ins Berliner
Bundesverteidigungsministerium zitiert, Asselborn mußte Abbitte leisten: Er habe mit seiner Kritik nur »als Mensch reagiert«, beteuerte er im »Deutschlandradio«, als Politiker hingegen habe er »sehr viel Respekt vor allen Militärs« in Afghanistan, besonders vor »dem deutschen«. Auch Kouchner sah sich bald gezwungen, »Bedauern« über seine Kritik zu übermitteln. Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« titelte zufrieden: »Außenminister Kouchner entschuldigt sich bei Deutschland«.

Ganz spurlos ist das Massaker nicht an der Bundesrepublik vorbeigegangen. Am 26. November 2009 feuerte der damalige Kriegsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, seit dem 28. Oktober im Amt, Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan und Staatssekretär Peter Wichert – mit der Begründung, beide hätten ihm wichtige Informationen zu den Ereignissen in der Nacht vom 3./4. September in Kundus vorenthalten. Tags drauf trat Franz Josef Jung, der im September noch als Kriegsminister amtiert hatte und dann an die Spitze des Arbeitsministeriums gewechselt war, von seinem dortigen Ministerposten zurück. Er wolle, erläuterte er, die politische Verantwortung für die »Informationspannen« im Zusammenhang mit dem Massaker übernehmen.

Abgesehen von dieser politischen Flurbereinigung tat sich allerdings nicht viel. Die Bemühungen um eine juristische Aufarbeitung des Massakers verliefen weitestgehend im Sande, Versuche von Angehörigen der Opfer, auf dem Rechtsweg eine Entschädigung zu erkämpfen, scheiterten. Am 13. Januar 2016 reichte dann Abdul Hanan, von der deutschen Justiz erfolgreich abgeblockt, seine Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein. Der hat sie nun an seine Große Kammer weitergereicht – ein Vorgang, der jährlich nur in rund 30 der insgesamt 60.000 bei dem Gerichtshof anhängigen Verfahren stattfindet. Dies unterstreiche die »Bedeutung, die diesem Fall beigemessen wird«, ließ sich ein EGMR-Sprecher zitieren. Bleibt zu hoffen, daß Hanan diesmal Recht bekommen wird.

Berliner Abwehrhaltung

Das komplette Mauern, mit dem die deutsche Bundesregierung zunächst auf das Massaker von Kundus reagiert hatte, ließ sich auf Dauer nicht aufrechterhalten. »Sie können davon ausgehen, daß der Angriff angeordnet wurde, weil keine unbeteiligten Zivilpersonen durch den Angriff hätten zu Schaden kommen können«, hatte ein Sprecher des deutschen Kriegsministeriums am Tag danach behauptet: »Bei anwesenden Zivilisten hätte der Luftangriff nicht stattfinden dürfen.« Kriegsminister Franz Josef Jung beharrte zwei Tage später immer noch darauf, bei Kundus seien nur Taliban-Kämpfer ums Leben gekommen. Erst am 8. September drehte er bei, stellte sich aber trotzdem konsequent hinter Oberst Klein und erklärte, dessen Entscheidung zu dem Bombardement sei »völlig richtig« gewesen.

Spätestens die Berichte von schwerverletzten, auch von toten Kindern untergruben die Blockadehaltung des Ministeriums. Am 16. Dezember 2009 konstituierte sich der Verteidigungsausschuß des Bundestages als Untersuchungsausschuß, am 25. Oktober 2011 legte er seinen Abschlußbericht vor, am 1. Dezember debattierte der Bundestag darüber. CDU, CSU und FDP konnten sich immerhin dazu durchringen, den Angriff als militärisch »nicht angemessen« zu bezeichnen. Die Partei Die Linke stufte ihn als völkerrechtswidrig ein.

Die juristische Aufarbeitung des Massakers wiederum verlief im Sand. Der Generalbundesanwalt hatte die Ermittlungen gegen Klein und seinen Fliegerleitoffizier bereits im April 2010 eingestellt, er hatte sich nicht in der Lage gesehen, ein Fehlverhalten zu erkennen. Nach langem Hin und Her erklärte das Bundesverfassungsgericht im Mai 2015, die Einstellung sei zu Recht erfolgt. Das juristische Vorgehen gegen den mittlerweile zum Brigadegeneral beförderten Oberst war damit abgeschlossen. Zuvor hatten im März 2013 Angehörige von Opfern, darunter Abdul Hanan, begonnen, vor deutschen Gerichten die Zahlung von Entschädigung einzuklagen.

Die Bundeswehr hatte im August 2010 angekündigt, jeder Opferfamilie – ganz unabhängig von der Zahl der Opfer – 5.000 US-Dollar zu zahlen, wollte dies aber explizit »nicht als Schuldeingeständnis«, sondern als »humanitäre Hilfe« verstanden wissen. Der Versuch der Opferangehörigen, auf gerichtlichem Weg Entschädigung zu erlangen, scheiterte. Im Dezember 2013 beschied das Bonner Landgericht ihre Klage negativ, im April 2015 wies das Kölner Oberlandesgericht dann das Revisionsbegehren zurück. Im Oktober 2016 bestätigte der Bundesgerichtshof die Urteile aus dem Rheinland. Abdul Hanan hatte sich da allerdings bereits an den EGMR in Strasbourg gewandt.

Jörg Kronauer

Bis zu 142 Menschen sind in Kundus bei dem Luftangriff auf die Tanker gestorben (Foto: EPA/dpa)